Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)
HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems
230 Waltraud Heindl Arbeiterschaft das jüdische Glaubensbekenntnis in nur äußerst geringem Maß vertreten war. Um Einseitigkeiten zu vermeiden, soll also aus den Ehescheidungsakten lediglich der Schluß gezogen werden, daß der Anteil der sozialen Unterschichten Wiens an den prozessuellen Ehescheidungen sehr hoch war. Daß jedoch gerade bei der Arbeiterschaft Wiens um die Jahrhundertwende die Ehe nicht zu den selbstverständlichen Institutionen gehörte, beweist eine Untersuchung über die Konkubinate in Wien44). Die in dieser Analyse angewandte Methode ist zwar nicht befriedigend und die Annahme berechtigt, daß es viel mehr Konkubinate in Wien gegeben hat als Löwy ausweist45), doch sie zeigt deutlich, daß die Konkubinate in erster Linie unter den Katholiken und der „unbemittelten Bevölkerung“ zu suchen waren46). Nach den Untersuchungen des Autors lebten in den Jahren 1896-1901 53,34—63,62% aller katholischen, 43,40-47,65% aller evangelischen und nur 21,91-23,27% aller jüdischen Eheschließenden vorher im Konkubinat. Dieser Reihenfolge entsprach auch die Geburtenrate der unehelichen Kinder47). Die Höchstzahl der Konkubinate fand sich zur selben Zeit im Wiener Gemeindebezirk Favoriten, damals ein ausgesprochener Arbeiterbezirk48): 76,23-88,36% Konkubinate (auf die Eheschließenden bezogen) in Favoriten gegenüber 17,99-21,12% in der Innenstadt. Allerdings stellte der Autor ein stetiges Sinken der Zahl der Konkubinate sowie der Geburtenzahl der unehelichen Kinder fest49). Die „selbständige Industriearbeiterfamilie“ wurde immer mehr - wie Michael Mitterauer feststellt — zu einer dominanten Erscheinung50). Parallel dazu verlief jedoch das Ansteigen der Scheidungsrate. 44) Wilhelm Löwy Konkubinate in Wien in Österreichische Rundschau 3/3 (1905) 591-596. 45) Ebenda 594. Der Autor schloß aus der Tatsache derselben Wohnadresse von Braut und Bräutigam bei den Eheschließenden auf das Vorhandensein eines Konkubinats vor der Ehe. Damit wurden einerseits jedoch alle jene Konkubinate nicht erfaßt, die niemals in eine Ehe mündeten, andererseits wurde wohl allein aus dem Faktum derselben Wohnadresse irrtümlich auf zu viele Konkubinate geschlossen. 46) Ebenda 595. 47) Ebenda: 33,99% ülegitime Kinder bei den Katholiken, 24,0% bei den Protestanten und 12,74% bei den Juden. 48) Ebenda. 49) Ebenda 596. Zum Problem der illegitimen Kinder auch Othmar Spann Die Legitimation der unehelichen Kinder in Österreich unter Berücksichtigung der Sterblichkeit nach Gebieten in Statistische Monatsschrift NF 14 (1909) 129-138. 50) Siehe dazu Michael Mitterauer Auswirkungen von Urbanisierung und Frühindustrialisierung auf die Familienverfassung an Beispielen des österreichischen Raums in Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hg. von Werner Conze (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 21, Stuttgart 1976) 77. Mitterauer stellt fest, daß sich in Wien erst spät der Typus der selbständigen Arbeiterfamilie durchsetzte.