Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 225 so bieten sie doch durch die von ihnen gegebenen Informationen gewisse Vorteile gegenüber dem statistischen Zahlenmaterial. Im folgenden sollen solche Fragen herausgegriffen werden, auf die die Stati­stik eine nur unzureichende oder gar keine Antwort zu geben vermag, — le­diglich als Ansatzpunkte, um zu zeigen, daß gewisse Differenzen zwischen den Ergebnissen der Akten und der Statistik bestehen, und um die Möglich­keiten festzustellen, die Statistik an Hand der Akten zu ergänzen bzw. zu korrigieren24). Es bietet sich dabei angesichts der in den Akten enthaltenen Schilderungen der näheren Lebensumstände an, erstens die soziale Schicht der „Schei­dungsbegehrenden“ zu untersuchen und zweitens die Frage nach der Bedeu­tung der Ehescheidung für die Geschlechter im sozialen Alltag zu stellen — Aspekte, über die die amtliche Statistik nur unzureichend Auskunft zu geben vermag. Die Ehescheidungsakten machen — wenn auch nicht die Probleme des Familienlebens — so doch die näheren Umstände des Scheiterns einer Ehe deutlich, sie berichten, welche Verhältnisse vom jeweiligen Ehepartner so­wohl für ihn persönlich als unzumutbar empfunden wurden als auch unver­einbar mit dem, was er für das Wesen der Ehe hielt. Sie sprechen daher auch bis zu einem gewissen Grad von Wünschen, die man an eine Ehe knüpfte, von Werten und Vorstellungen über das Wesen der Ehe schlechthin, von der herrschenden Familienideologie und ihrer Konfrontation mit der Realität. IV Karl Ritter v. Englisch kam in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, daß für das erschreckende Ansteigen der großstädtischen Ehescheidungsfrequenz nach 1900 in der zisleithanischen Reichshälfte der Donaumonarchie in erster Linie die Industriearbeiterschaft, in zweiter „der Handel- und Gewerbe­stand“ und in dritter „die Intelligenz“ verantwortlich sei25). Im Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien wird beispielsweise für das Jahr 1903 der Anteil der Ehescheidungshäufigkeit der Berufsgruppen - nach dem Beruf des Mannes — folgendermaßen ausgewiesen26): 24) Die folgenden Ausführungen wollen daher keineswegs als endgültige For­schungsergebnisse, sondern lediglich als Versuche verstanden werden, dieser Problem­stellung nachzugehen. Wichtige Fragen, beispielsweise Zusammenhänge zwischen Ehe­scheidung und Lebensalter, Ehedauer, Kinderanzahl, Konfession etc., wurden dabei vollständig ausgeklammert. 25) Englisch Ehelösungsstatistik 470 und 474. 26) Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1905 51. Das Jahr 1903 wies eine besonders hohe Ehescheidungsziffer auf. Mitteilungen, Band 33 15

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