Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)
HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems
224 Waltraud Heindl Dies spielt besonders bei der Analyse der Ehescheidungsmotive eine wichtige Rolle. Wenn auch die in den Akten in lebendiger Sprache festgehaltenen Berichte Spiegelbilder menschlicher Tragödien zu sein scheinen, so darf sich der Leser dennoch nicht verleiten lassen, sie als reale Abbildungen des Ehealltags zu nehmen. Die Absicht, ein möglichst düsteres Porträt von den jeweiligen Eheverhältnissen zu zeichnen und eine moralisch und juristisch fundierte Rechtfertigung zu dokumentieren, verzerren das Bild, das ausschließlich von negativen Details bestimmt wird. Im besten Fall (sehen wir von bewußten Lügen ab) geben also die aus den Akten zu entnehmenden Informationen eine gefilterte Realität wieder. Außerdem ist in Betracht zu ziehen, daß wir es grundsätzlich mit einer negativen Auslese von Ehen zu tun haben, die in den pro- zessuellen Ehescheidungsakten veranschaulicht werden, um Ehen, für deren Auflösung nicht einmal mehr einverständliche Modalitäten gefunden werden konnten. Der Historiker, der an die Scheidungsakten mit der Forschungsabsicht herangeht, allgemeine Aussagen über Ehe- und Familienverhältnisse zu erfahren, wird nicht auf seine Rechnung kommen21). Bestimmte wichtige Bestandteile des Familienlebens werden fast vollständig ausgeklammert: So werden z. B. Position und Rolle der Kinder im Familienleben nur wenig deutlich. Selten werden sie als mitbestimmende Faktoren für die Entscheidung zur Ehescheidung genannt. Meistens treten sie nur als Zuseher in Erscheinung, nämlich als Zeugen häuslicher Szenen. Uber die Regelung ihrer Lebensverhältnisse nach der Ehescheidung erfahren wir gar nichts, da diese wie auch die Entscheidung über sämtliche vermögensrechtliche Fragen einem eigenen Verfahren nach der Ehelösung Vorbehalten blieben22). Auch die sexuellen Probleme einer Ehe werden in den Akten nur selten, und wenn, dann mit äußerster Zurückhaltung angeführt. Interessant in diesem Zusammenhang ist jedoch, daß gerade die Aspekte des Intimlebens in den Ehescheidungsakten eines puritanischen und ländlichen Lebensbereiches, nämlich Massachusetts im 18. Jahrhundert, sehr deutlich zum Zug kommen, in denen sich unverhüllt manifestiert, daß die ganze Gemeinde - staatliche und kirchliche Autoritäten, Verwandte und Nachbarn - am Intimleben der Familien unverhohlen Anteil nahmen23). Wenn wir also auch festhalten müssen, daß mit Ausnahme von wenigen Fällen die Akten der Ehescheidungsprozesse als geeignete historische Quelle zur Rekonstruktion des durchschnittlichen Famüienlebens auszuschließen sind, 21) Zur Problematik des Werts nicht-numerischer Quellen für die historische Familienforschung Heidi Rosenbaum Zur neueren Entwicklung der historischen Familienforschung in Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 1/2-3 (1975) 218ff. 22) Oesterreichisches Rechts-Lexikon 2 215. 23) Nancy F. Cott Eighteenth-Century Family and Social Life Revealed in Massachusetts Divorce Record in Journal of Social History 10/1 (1976) 22—25.