Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)

HEINDL, Waltraud: Gedanken zur Edition „Die Protokolle des österreichischen Ministerrates (1848–1867)”

Protokolle des österr. Ministerrates 261 denzen“ der Geschichte20). Als relevante Frage gilt, ob die Ministerratspro­tokolle den Problemstellungen der gegenwärtigen Geschichtsschreibung so­wohl als Quelle als auch von der Thematik her entsprechen. Durch die neuen Wege, welche von der Historiographie beschritten wurden, um die Struktu­ren einer Zeit, das gesamte Leben einer Gesellschaft, zu erfassen, wurde der Wert anderer als schriftlicher Quellen für die historische Forschung zuneh­mend berücksichtigt. Die Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und die neuerdings so aktuelle Forderung nach mentalitätsgeschichtlichen Perspektiven eröffnen neue Fragestellungen. Wie bereits erwähnt, reicht das Spektrum der Thematik, die sich in den Mi­nisterratsprotokollen widerspiegelt, von den Diskussionen über Pensionen von Türhütern bis zu jenen über Entwürfe für neue Verfassungen, von der Beratung über die Finanzierung von Eisenbahnprojekten bis zu den Debatten über eine grundlegende Universitätsreform und -organisation, so daß in ih­nen genügend Ansatzpunkte für die aktuellen Fragen der Geschichtsschrei­bung gefunden werden können21). Was den Aussagewert der Ministerratsprotokolle für die innere Problematik Österreichs betrifft, so darf auf das Urteil Josef Redlichs verwiesen werden, der primär aus den Ministerratsprotokollen Erkenntnisse zu seinem heute noch nicht überholten Werk Das österreichische Staats- und Reichsproblem schöpfte: „[Die Ministerratsprotokolle] gewähren nicht nur Einsicht in den inneren Verlauf der politischen Krisen, deren Reihe den Entwicklungsgang des österreichischen Problems vorstellt, sondern sie geben auch durch die von den obersten Ratgebern der Krone und gar oft von dem Träger der letzteren selbst in den Akten vorgebrachten Argumente und Gedankengänge ein durch nichts zu ersetzendes Mittel, jeweils den Geist der gan­zen österreichischen Regierungsweise, den Sinn und die Grundsätze ihrer Politik als konkrete Tatsache zu erfassen“ 22). Einer Auswertung dieses Quellenmaterials steht selbstverständlich der tradi­tionelle Methodenkanon zur Verfügung. Aber auch die Möglichkeiten der Anwendung quantitativer Analysen sind zu überlegen. Quantitative Inhalts­analysen etwa, die Wertorientierungen und Meinungen von Individuen und 20) Heinrich Lutz hat die Auswirkung der Schwerpunktverschiebung und des Wandels „interpretativer Tendenzen“ der heutigen Geschichtsforschung in bezug auf die Nuntiaturberichte analysiert, die verschiedenen Aspekte der Bewertung dieser Quelle und die Möglichkeiten zu neuen Ansätzen aufgezeigt: Die Bedeutung der Nun­tiaturberichte für die europäische Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 53 (1973) 152-167. 21) Für eine Sozialgeschichte der unteren Beamtenschaft oder eine Geschichte des Eisenbahnbaus in Österreich, um nur zwei von vielen Beispielen herauszugreifen, wer­den die Ministerratsprotokolle nicht zu übersehen sein. 22) Josef Redlich Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Un­tergang des Reiches 1: Der dynastische Reichsgedanke und die Entfaltung des Pro­blems bis zur Verkündigung der Reichsverfassung von 1861 (Leipzig 1920) XII.

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