Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)

HEINDL, Waltraud: Gedanken zur Edition „Die Protokolle des österreichischen Ministerrates (1848–1867)”

262 Waltraud Heindl Gruppen oder Motive für Entscheidungsfindungen untersuchen, sind durch­aus denkbar, sobald genügend publiziertes Material vor liegt23). Es bedarf eigentlich keiner Erwähnung, daß die Ministerratsprotokolle als Quelle so wie jede andere einer formalen Kritik unterzogen werden müssen, ebenso wie die „Brechungen der Ereignisse [...], die aus den Bedingungen der Verhandlungen und vor allem der Protokollierung resultieren“24), An­satzpunkt quellenkritischer Analysen zu sein haben. Aber das ist eine Forde­rung, die spätestens seit Droysens Äußerungen zur Quellenkritik, in welchen recht deutlich vor einer naiven und undifferenzierten Überschätzung von Quellen gewarnt wurde2S), zum selbstverständlichen know how des Histori­kers gehört. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Herausgabe der Minister­ratsprotokolle gerade unter dem Kriterium moderner Fragestellung sinnvoll erscheint. III Durch die zentrale Funktion des österreichischen Ministerrates von 1848 bis 1867 sowie des gemeinsamen Ministerrates von 1867 bis 1918 für die Angele­genheiten des gesamten Reiches ist in den Protokollen eine Quellengruppe gegeben, die eine vorzügliche Grundlage für eine bilaterale Zusammenarbeit bietet, die sich äußerst positiv entwickelte. Nach der Trennung Öster­reich-Ungarns im Jahre 1918 gingen die beiden Staaten auch wissenschaft­lich gesehen im allgemeinen eigene Wege. Das große Aktenwerk der Ersten Republik Österreich Österreich—Ungarns Außenpolitik von der Bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914 entstand beispielsweise ohne Bei­ziehung ungarischer Historiker26), obwohl es gewiß essentielle Probleme bei­der Staaten berührte. Die nunmehrige wissenschaftliche Zusammenarbeit zweier Staaten mit differenten Gesellschaftsordnungen, Dokumente über die gemeinsame, nicht immer harmonische Vergangenheit zu edieren, spricht zumindest für einen Wandel des Selbstverständnisses und für die Bewälti­gung der Vergangenheit. 23) Zur Anwendbarkeit von quantitativen Inhaltsanalysen siehe Heinrich Best Die quantitative Analyse inhaltlicher und kontextueller Merkmale historischer Dokumente. Das Beispiel der handelspolitischen Petitionen der Frankfurter Nationalversammlung in Heinrich Best — Reinhard Mann (Hgg.) Quantitative Methoden in der historisch­sozialwissenschaftlichen Forschung (Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen. Quantitative sozialwissenschaftliche Analysen von historischen und prozeßproduzier­ten Daten 3, Stuttgart 1977) 162-206. 24) Rumpler Einleitungsband 13. 25) „Nur das Quellenmäßige geben und meinen wollen, daß das nun die Geschichte sei, widerspricht der Natur unserer Wissenschaft. Es ist wahrhaft kindisch zu meinen, daß das, was Diodor von der Diadochenzeit erzählt, die Geschichte derselben ist“: Jo­hann Gustav Droysen Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. von Rudolf Hübner (Darmstadt 41960) 134. 26) Über die Entstehung dieser Aktenpublikation Friedrich Engel-Janosi Zur Geschichte des österreichischen Aktenwerkes über den Ursprung des ersten Weltkriegs in Zeitgeschichte 5/2 (1977) 39—52.

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