Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)

HAAS, Hanns: Die Vereinigten Staaten von Amerika und die alliierte Lebensmittelversorgung Österreichs im Winter 1918/19

Amerika und die Lebensmittelversorgung Österreichs 253 Zur Jahreswende 1918/19 aber waren die Auseinandersetzungen zwischen den alliierten Staaten und den USA noch nicht entschieden. In dieser Situa­tion ließen es die amerikanischen Unterhändler darauf ankommen, selbst um den Preis einer kurzfristigen Verschlechterung der sozialen Lage Österreichs zuerst einmal ihre Wirtschaftsinteressen durchzusetzen. Was aber oberfläch­lich betrachtet als rigorose Verfolgung wirtschaftlicher Belange erscheint, ist der politischen Doktrin der Lebensmittelbürokraten zufolge nichts weiter als ein notwendiger taktischer Schritt zur Durchsetzung einer Vormachtstellung, die allein eine erfolgversprechende antibolschewistische Politik garantiere. Im Winter 1918/19 aber, das sollte noch hinzugefügt werden, waren es trotz allem die als nationalistisch bezeichneten europäischen Verbündeten, die zur Stabilisierung der österreichischen Gesellschaftsordnung beitrugen, denn sie hatten — wenn auch mit amerikanischer Zustimmung, so doch ohne wirklich ausreichende Sicherstellung — die Aufgabe übernommen, Österreich mit Le­bensmitteln zu versorgen. Abschließend bleibt noch die Frage, ob sich die Strategie der österreichi­schen Regierung gelohnt hatte, in den Beziehungen zu den Siegermächten besonderes Gewicht auf eine Annäherung an die Vereinigten Staaten zu len­ken. Zu einer Aufnahme von direkten Kontakten zwischen Österreich und den USA kam es trotz der immer wiederkehrenden Bitten der österreichi­schen Regierung nicht. Am 17. Jänner 1919 erfuhr der österreichische Ge­sandte in Bern endgültig, daß nach den Ententeregierungen nun auch das State Department Bauers Ersuchen vom 27. Dezember 1918 um Zulassung einer österreichischen Delegation zu maßgeblichen Vertretern der Sieger­mächte abgelehnt und Österreich auf die Entscheidung der nun beginnenden Friedenskonferenz verwiesen hatte: Auch für Washington war Österreich ein Feindstaat118). Was die amerikanische Haltung in der Lebensmittelfrage bzw. zur Kohlen­versorgung anlangte, so blieb sie gewiß von Informationen aus Österreich nicht unbeeinflußt; mehrmals läßt sich auch ein direkter Zusammenhang zwischen Kenntnis der österreichischen Situation und diesbezüglichen Ent­scheidungen des State Department bzw. der Lebensmittelbürokratie nach- weisen. Selbst dann, wenn die österreichische Versorgungslage nur zum An­laß diente, die Alliierten zur Anerkennung der führenden Rolle der USA in bezug auf die gesamteuropäische Versorgungsaktion zu bringen, war die Überzeugung mit im Spiel, den Interessen der hilfsbedürftigen Länder auf diese Weise am ehesten zu dienen. Kurzfristig konnte die amerikanische Hal­tung damit allerdings zur Verzögerung der Lebensmittelaktion beitragen. Wenn die österreichische Regierung und die Nationalversammlung unter so­zialdemokratischem Einfluß ihre besondere Verbundenheit mit den Prinzi­pien des Wilsonismus unterstrichen, um eine gerechte Friedensordnung zu erzielen, so läßt sich eine Auswirkung auf die Politik des State Department 118) Haupt an Bauer, 1919 Jänner 20: HHStA NPA 342 fol. 788-789, ZI. 1-996/2/1919.

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