Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)
HAAS, Hanns: Die Vereinigten Staaten von Amerika und die alliierte Lebensmittelversorgung Österreichs im Winter 1918/19
254 Hanns Haas unmittelbar nicht nachweisen. Es dürfte in Washington aber nicht ohne gewissen Eindruck geblieben sein, daß sich der Auflösungsprozeß der Monarchie in friedlichen Formen vollzog119). Die Demokratisierung des Kernlandes der ehemaligen Monarchie und der Übergang Neu-Österreichs zur Republik wurden aber nie ausdrücklich als Beweis einer Abkehr von der „Autokratie“ 12°) beurteilt, die zu honorieren seien. Indirekt aber blieb die Entstehung einer demokratischen Ordnung nicht ohne Einfluß auf die amerikanische Österreichpolitik, da die als Ergebnis der „Österreichischen Revolution“ etablierte Regierung jedenfalls das Vertrauen des State Department genoß und auf Unterstützung rechnen konnte. Darüber hinaus hängt die Haltung zu der von Sozialdemokraten politisch dominierten Regierung auch mit einem grundsätzlichen Meinungswechsel in der amerikanischen Regierung Anfang November 1918 zusammen, die die europäische Sozialdemokratie nunmehr, trotz aller Bedenken, als eine antibolschewistische Kraft einschätzte und daher auch ihre Unterstützung in Aussicht nahm121). Zudem hatte Bauer immer wieder den Konsenscharakter der österreichischen Regierungspolitik hervorgehoben, was gewiß dazu beitrug, das Vertrauen in die Politik Wiens zu erhöhen. Niemals im Verlauf des Jahres 1918 hatte das State Department an der antibolschewistischen Einstellung der Regierung gezweifelt. Letztlich führte die österreichische Außenpolitik zu einer Form von Interessenübereinstimmung zwischen der österreichischen und der amerikanischen Regierung, die trotz aller Distanz, wie sie die Aufrechterhaltung des Freund-Feind-Verhältnisses mit sich brachte, bald zu einer intensiven Form des Zusammenwirkens zwischen österreichischen Regierungsstellen und amerikanischer Lebensmittelbürokratie führen sollte122). Immer wieder ging es dabei um die Bereitstellung von Lebensmitteln und die Sicherung von Krediten, zwei Forderungen, die Kanzler Renner in einem Interview mit der amerikanischen Journalistin Nelly Blye am 22. Jänner 1919 folgendermaßen formulierte: „Wirtschaftlich erwartet Deutschösterreich die Hilfe von Amerika zunächst in bezug auf die Lieferung von Getreide und Fett... Zweitens brauchen wir von Amerika finanzielle Hilfe. Wir müssen, wenn wir nicht der Anarchie und damit dem Bolschewismus verfallen wollen, unsere Volkswirtschaft wieder aufbauen“. Renner definierte bei dieser Gelegenheit auch treffend das Leitmotiv österreichisch-amerikanischen Zusammenwirkens, wenn er auf die Frage: „Werden noch weitere Revolutionen kommen?“ antwortete: „Ob wir noch eine Revolution haben werden oder nicht, das hängt heute 119) Stovall berichtet darüber ausführlich am 27. Oktober 1918: NA 695/5, ZI. 863.00/95. 12°) „Autocracy“ fand in den amerikanischen Formulierungen oft Verwendung: „Meanwhüe the organism of the autocracy appears well... paralysed“ berichtet Stovall am 23. Oktober 1918 nach Washington; NA 695/5, ZI. 863.00/93. m) Schwabe Deutsche Revolution 230. 122) Als amerikanisches Mitglied einer seit Jänner 1919 in Wien permanent anwesenden interalliierten Lebensmittelkommission wirkte Captain Gregory: Mitteilungen des Staatsamtes für Volksernährung passim.