Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)

HAAS, Hanns: Die Vereinigten Staaten von Amerika und die alliierte Lebensmittelversorgung Österreichs im Winter 1918/19

252 Hanns Haas Handelsinteressen zu wahren. Die Sorge um eine drohende Bolschewisierung Österreichs diente dabei als Begründung für ihr jeweiliges Verhalten: Mitte Dezember zum Beispiel dafür, in Anbetracht des Scheitems der alliierten Verhandlungen um die Leitung der europäischen Lebensmittelaktion nun einseitig die Versorgung der ehemals habsburgischen Staaten in die Wege zu leiten. Dies muß nicht unbedingt bedeuten, daß den Amerikanern die bol­schewistische Gefahr rein als Vorwand dazu diente, ihr Wirtschaftsinteresse zu fördern. Man weiß im Gegenteil, wie besorgt das State Department und Wilson zeitweise über eine mögliche Konsequenz der sozialen Unruhen des Kontinents waren. So waren es ja gerade die USA, die Anfang November 1918 angesichts der Verschärfung der sozialen Spannungen die Verbündeten zu einer gemeinsamen Erklärung über die Versorgung der befreiten Nationen veranlaßten und die kurz darauf sogar eine Lebensmittelhilfe für Deutsch­land in Aussicht stellten. Schließlich griff das State Department in Fragen der Kohlenversorgung direkt in die Verhältnisse des Donauraumes ein, um zur Beruhigung der Lage beizutragen. Wenn die amerikanischen Unterhändler dennoch so großes Gewicht auf die Leitung der alliierten Lebensmittelaktion legten und in bezug auf Österreich ihre dominierende Rolle gewahrt wissen wollten, so ist das auf ihre Ideologie zurückzuführen, die in der Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Interessen geradezu eine Garantie für die Beseitigung der bolschewistischen Gefahr sah. Die Lebensmittelbürokratie ging dabei von der Annahme aus, daß allein eine friktionsfreie Handelspolitik, eine Politik der „Offenen Tür“ also, wie sie sie verfolgte, langfristig die Grundlagen der westlichen Gesellschaftsordnung stabilisieren könne. Die Lebensmittelaktion aber sollte unter ihrer Leitung zum Hebel für den Aufbau einer neuen Wirtschaftsorganisation der Welt werden. In diesem Sinne fanden die machtpolitischen Auseinandersetzungen der Jahreswende eine ideologische Begründung insofern, als die USA im In­teresse der westlichen Welt geradezu verpflichtet waren, der engstirnigen lo­kalen Politik der europäischen Alliierten, die permanent zu nationalen und sozialen Konflikten führen müsse, ein Ende zu bereiten116). Wenn man die europäische Entwicklung des Jahres 1919 überblickt, wird man dieser amerikanischen Interpretation zustimmen müssen, da sich nur allzubald die Notwendigkeit zeigte, die Auseinandersetzungen der Alliierten untereinander ebenso wie die Feindschaft zwischen den Ententestaaten und den Mittelmächten im Interesse einer Vereinheitlichung der antibolschewisti­schen Kräfte des Kontinents aufzugeben. Die große Stunde der Vereinigten Staaten schlug, als klar war, daß die gesellschaftliche Krise, die Europa er­schütterte, nur mit ihrer Hilfe und unter ihrer Anleitung zu bewältigen war117). So gesehen, waren es die USA, die langfristig die Interessen der westlichen Gesellschaftsordnung besser vertraten als die europäischen Alli­ierten. ,16) Ebenda 257-262. 117) Hanns Haas Die Pariser Friedenskonferenz und das Ende der ungarischen Räterepublik 1919 in MÖStA 29 (1976) 369-372.

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