Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)
HAAS, Hanns: Die Vereinigten Staaten von Amerika und die alliierte Lebensmittelversorgung Österreichs im Winter 1918/19
246 Hanns Haas health and public order in the world“, wie es Hoover formulierte71). Hoover schien daher auch politisch im Recht zu sein, wenn er Mitte Dezember die Notwendigkeit einer raschen Hilfsaktion damit begründete, daß sich in der Zwischenzeit die Lage in einigen Gebieten Altösterreichs außergewöhnlich verschlechtert habe72). Österreich spielte in Hoovers Beweisführung zum amerikanischen Alleingang in der Versorgungsfrage eine besondere Rolle: „The situation of German-Austria is critical and a matter of hours rather than days“, schrieb er am 16. Dezember dem Acting United States Food Administrator73). Nun stellt sich wiederum die Frage, ob die Sorge um Österreichs soziale Lage aufrichtig war oder nur zum Anlaß genommen wurde, die amerikanische Wirtschaftstätigkeit auszudehnen. State Department und amerikanische Lebensmittelbürokratie hatten allerdings in zwei Fällen bereits bewiesen, daß nicht nur die Angst vor dem Bolschewismus maßgebend für amerikanische Interessen war. Der erste Fall betrifft das amerikanische Verhalten zur Frage der Schweizer Lebensmittelhilfe für Österreich. Als sich nämlich die Schweizer Regierung Mitte November 1918 bereit erklärte, Österreich, vor allem aber seine beiden westlichen Bundesländer, sofort mit Lebensmitteln alliierter Provenienz zu versorgen74), gestattete das State Department am 1. Dezember zwar eine Versorgung Vorarlbergs und Tirols via Schweiz75), schränkte aber bereits am 12. Dezember ein: Die Entscheidung bezüglich von Sendungen nach Tirol sollte zurückgestellt werden, wenn es sich um zu große Quantitäten handelte. Die Frage müsse außerdem von Hoover entschieden werden76). Vier Tage später, am 16. Dezember, wird Hoover die prekäre Lage Österreichs zum Anlaß nehmen, seinerseits die Versorgung Mitteleuropas zu beginnen. Das State Department wollte Österreich also erst dann unterstützen, als gesichert war, 71) Bane - Lutz Organization 43. Auch in britischen Regierungs- und Finanzkreisen gab es sogenannte „Reconstructionalists“, die dem Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft - nicht zuletzt im Interesse einer Zurückdrängung des Bolschewismus - den Vorrang vor engstirniger nationalistischer Politik gaben. Im Gegensatz zu amerikanischen Kräften mangelte es ihnen freilich an den nötigen wirtschaftlichen und finanziellen Machtmitteln, weshalb sie auch den Vorschlag für eine Regelung der Reparationsproblematik bzw. der Frage der interalliierten Schulden machten, die die USA direkt zum Gläubiger Deutschlands gemacht hätte, - ohne Erfolg selbstverständlich. Nichtsdestoweniger arbeiteten die britischen „Reconstructionalists“ später - März 1919 — eng mit den amerikanischen Befürwortern eines wirtschaftspolitischen Verständigungskurses in Europa zusammen. Zu Jahresende 1918 aber setzten britische „Reconstructionalists“ bereits einige, allerdings eher bescheidene Hilfslieferungen an Österreich durch. Vgl. dazu Robert Hoffmann Die wirtschaftlichen Grundlagen der britischen Österreichpolitik 1919 in MÖStA 30 (1977) 256-259. Zu den britischen Lieferungen siehe Mitteilungen des Staatsamtes für Volksemährung 14. 72) Bane — Lutz Organization 91. 73) Ebenda 96. 74) FR PPC 2 188 (1918 November 15). 75) Die Versorgung Tirols und Vorarlbergs wurde von den Franzosen unterstützt. Einem diesbezüglichen Plan des französischen Außenministeriums stimmte das State Department am 1. Dezember zu: NA 695/24, ZI. 863.48/47. 76) Ebenda ZI. 863. 48/51.