Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)
HAAS, Hanns: Die Vereinigten Staaten von Amerika und die alliierte Lebensmittelversorgung Österreichs im Winter 1918/19
DIE VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA UND DIE ALLIIERTE LEBENSMITTELVERSORGUNG ÖSTERREICHS IM WINTER 1918/19 Von Hanns Haas Die neu entstandene „deutschösterreichische“ Republik war von Lebensmitteln beinahe gänzlich entblößt1). Als die deutschen Abgeordneten des österreichischen Reichsrates am 21. Oktober 1918 zusammentraten, um die Bildung eines eigenständigen deutschösterreichischen Staates vorzubereiten, widmeten sie der Ernährungsfrage besondere Aufmerksamkeit. Otto Bauer, vom Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie der cisleithanischen Reichshälfte beauftragt, das Organisationsstatut einer österreichischen exekutiven Gewalt auszuarbeiten, hatte am 18. Oktober 1918 die Einsetzung eines „Ernährungsausschusses“ vorgeschlagen2). Der Vollzugsausschuß der Nationalversammlung gliederte sich dann auch in seiner ersten Sitzung vom 21. Oktober in drei Gruppen, deren dritte sich mit „Volkswirtschaft und Ernährung“ befaßte3). Doch nur allzubald zeigte es sich, daß organisatorische Vorkehrungen die Aufrechterhaltung der Ernährung nicht gewährleisten konnten und die „Tragödie der Erschöpfung“4) nun erst begann: Denn die neuen Nationalstaaten, die bisher hauptsächlich die Ernährung Österreichs gewährleistet hatten, sperrten sich beinahe vollständig gegen Österreich ab, und die Bemühungen, die Hungerblockade zu durchbrechen, blieben zumeist vergeblich. So hat selbst Ungarn, das ja seinerseits über ausreichende Reserven verfügte, Lebensmittel in nur unzureichendem Ausmaße und jedenfalls ausschließlich auf dem Kompensationswege für Textilwaren geliefert. Aufgrund der Verschiebung der Demarkationslinie, die immer größere Teile der ‘) Bereits im Hochsommer 1918 war deutlich geworden, daß die Ernährung der österreichischen Reichshälfte der Monarchie, die immer schon auf Zuschüben aus Ungarn, nun ergänzt durch Einfuhren aus Rußland und Rumänien, basierte, auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen würde. Darauf machte Karl Renner aufgrund einer Mitteilung im Ministerrat am 6. Juli den Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie aufmerksam: Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien (= AVA), Sozialdemokratisches Parteiarchiv S. D. Parteistellen 117. 2) Protokoll der Sitzung des deutschen Parteivorstandes von 1918 Oktober 18: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung Wien, Altes Parteiarchiv. 3) AVA Beschlußprotokolle des Vollzugsausschusses der deutschösterreichischen Nationalversammlung. 4) Gustav Gr atz — Richard Schüller Der wirtschaftliche Zusammenbruch Österreich-Ungarns. Die Tragödie der Erschöpfung (Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkrieges, österreichisch-ungarische Serie, Wien 1930).