Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32. (1979)

FORST-BATTAGLIA, Jakub: Die Orientfrage in den Jahren 1875–1878 und das Dilemma der polnischen Konservativen Galiziens

Orientfrage und Konservative Galiziens 229 eine schwierige Lage zu bringen. In Czas erschienen fast täglich während der Dauer des Kongresses Angriffe auf den Panslawismus, dessen .nihilistische“ und .revolutionäre“ Wesensart. Nicht Rußland als solches, sondern zeitge­bundene Auswüchse in der Gesellschaft des Zarenreiches wurden angepran­gert. Man sparte nicht mit Kritik am russischen Volk, vermied es aber, na­tionale Verhetzung zu betreiben56). Am 9. Juli druckte Czas den ungekürzten Text des Exposés ab. In ruhigen und ausgewogenen Worten wurde darin das Schicksal der polnischen Nation seit 1815 geschildert. .Lediglich Fakten“ wollten die Autoren darstellen und an die .unverrückbaren Rechte“ („droits imprescriptibles“) .nicht nur der Südslawen, sondern auch der Polen“ erin­nern. Der Form nach richtete sich das Schreiben eher an Rußland selbst als an den Berliner Kongreß. Es war so abgefaßt, als stamme es aus Rus­sisch-Polen, nicht aus Galizien, zählte viele an Polen begangene Missetaten der zaristischen Verwaltung auf und hob ständig hervor, daß die russische Regierung vom eigenen Standpunkt aus unüberlegt handle, wenn sie die Po­len unterdrücke, statt sie an sich zu ziehen. Die polnischen .führenden Klas­sen geben dauernd Beweise der Klugheit, politischen Vernunft und Aufopfe­rung, das Volk ehrt die Gesetze, Institutionen und Obrigkeiten. Der Sozia­lismus, gegen den heute die deutsche Regierung mit Sondergesetzen ankämp­fen muß, stößt unsere Bevölkerung ab“57). Das Expose wurde offiziell von keinem Teilnehmer des Berliner Kongresses beantwortet, erreichte aber sei­nen propagandistischen Zweck. Zwei Wochen nach Abschluß des Kongresses entwarf Tarnowski in einem Leitartikel der Zeitung Czas voller Hoffnung ein konservatives Programm für die Zukunft: Während der Balkankrise hätte sich das polnische Volk .vorbildlich diszipliniert und gewissenhaft“ benommen, .nichts verloren“, da­für jedoch die .Achtung Europas“ erlangt. Allerdings könnte .eine Änderung der Grenzen auf polnischem Boden nicht mehr angestrebt werden“, die Polen dürften von Österreich nicht erwarten, daß es um den Erwerb von Wojwod- schaften der früheren Rzeczpospolita jemals einen Krieg beginnen werde. .Polnische Interessen und die polnische Frage hören nunmehr auf, ein Spiel­ball der Druckmittel in der Politik der drei benachbarten Mächte zu sein, ein Instrument in der Hand dieser oder jener Regierung; jede von den dreien kann sie als eigenes Ziel auf die Fahnen schreiben“. Daher bestehe für die Polen kein Grund zum Pessimismus. Ihre von der politischen völlig unab­hängige nationale Einheit bleibe von der Entwicklung unberührt. Freilich sollten sich die Polen weiterhin der .panslawistischen“ Politik mittels ihrer eigenen .slawischen“ widersetzen, aber ,den Kampf nicht gegen die Obrigkeit, sondern gegen verhängnisvolle, mit jeder Rechtsordnung unvereinbare Sy­steme führen“. Deutlicher hatten die Konservativen Galiziens noch nie ihre 56) Czas n. 141, 1878 Juni 22; n. 143, 1878 Juni 25; n. 144, 1878 Juni 26; n. 146, 1878 Juni 28; n. 147, 1878 Juni 29; n. 148, 1878 Juli 2; n. 150, 1878 Juli 4; n. 151, 1878 Juli 5. 57) Wir kennen zwei Überlieferungen des Exposés: die zeitgenössische in Czas n. 154, 1878 Juli 9 und eine etwas spätere bei Tarnowski Exposé in Studya Poli- tyczne 1 344—357.

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