Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
RILL, Gerhard: Zur Geschichte der österreichischen Konsulargerichtsbarkeit in Bosnien
154 Gerhard Rill Der Wunsch nach Stabilisierung einer österreichfreundlichen, nicht übermächtigen türkischen Herrschaft auf dem Balkan blieb — zumindest bis zur Entrevue von Reichstadt 1876 — größer als der nach Macht- und Länderzuwachs. Die Neuorientierung in den Siebzigerjahren war, soweit sie das Verhältnis zum Osmanischen Reich betraf, nicht eine Umkehr, sondern das Erwägen einer Alternative, die dann unter dem Druck politischer Ereignisse zum spätest möglichen Zeitpunkt verwirklicht wurde >). Zu den nur schwer kontrollierbaren zwischenstaatlichen Problemen zählten in erster Linie die panslawischen Agitationen verschiedener Provenienz sowie Grenzverletzungen, die sich in kleineren Dimensionen zu einem permanenten Zustand verdichtet, in größeren Ausmaßen die Form organisierter Raubzüge angenommen hatten. In dieser und jener Hinsicht war es Österreich nicht möglich, den Status einer sauberen Grenze gegenüber Bosnien zu erreichen, und die Zustände in Bosnien und der Herzegowina bildeten die Hauptbelastung für die österreichisch-türkischen Beziehungen. In den Dreißigerjahren erreichten die verheerenden Einfälle in österreichisches Gebiet ihren Höhepunkt. Gerade um 1850, als die ersten österreichischen Konsularbeamten in Bosnien einzogen, schien sich eine Besserung der Lage durch Reformen und den Einsatz militärischer Mittel anzubahnen; nachdem jedoch der gefürchtete Serdar Omer Pascha die Macht des bosnischen Feudalismus gebrochen hatte, trat an dessen Stelle eine unfähige und korrupte Beamtenschaft, und die Situation wurde — besonders für die in Grenznähe lebenden Christen — unerträglicher als je zuvor. Die vor allem vom Militär befürwortete Okkupation, die in den Siebziger jahren den harten Kern der oben erwähnten Alternativlösung bildete, sollte jedoch noch zweieinhalb krisenreiche Jahrzehnte auf sich warten lassen * 2). Keineswegs die Kennzeichen einer ernsten Krise, eher die einer Verstimmung, die aus den unteren Schichten der Tagespolitik in die ministerielle Ebene aufgestiegen war, trug eine diplomatische Aktion, die der türkische Gesandte in Wien, Fürst Kallimachi, einleitete. Er übergab eine, wie er meinte, ostensible Weisung des türkischen Außenministeriums vom 1) Zitate nach Heinrich Lutz Zur Wende der österreichisch-ungarischen Außenpolitik 1871. Die Denkschrift des Grafen Beust für Kaiser Franz Joseph vom 18. Mai in MÖStA 25 (1972) 182. — Vgl. Eduard v. Wertheimer Graf Julius Andrássy 2 (Stuttgart 1913) 52 f, 256—272, 325 ff; F. R. Bridge From Sadowa to Sarajevo (London—Boston 1972) 60—77, mit reichhaltiger Bibliographie, und zuletzt Janis Rogainis Friedrich Ferdinand von Beust: The Interaction of Domestic and Foreign Policy during his Tenure as Austro-Hungarian Foreign Minister, 1866 to 1871 (ungedr. phil. Diss., Indiana University 1976) 208—216, 243 ff, 294 f. 2) Zum Verhältnis zu Bosnien vor allem Theodor v. Sosnosky Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns seit 1866 1 (Stuttgart—Berlin 1913) 111—140 passim und R. W. Seton-Watson The role of Bosnia in international politics (1875—1914) in Proceedings of the British Academy 17 (1931) 335—368.