Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
HOFFMANN, Robert: Die wirtschaftlichen Grundlagen der britischen Österreichpolitik 1919
258 Robert Hoffmann teralliierte Relief-Kommission in Bern nur einige untergeordnete Beschlüsse fassen konnte und sich vorerst einmal nach Wien, Prag und Budapest begab, um sich ein genaueres Bild von der gesamten Lage zu verschaffen. William H. Beveridge, der nachmalige Sozialreformer, vertrat Großbritannien in dieser Kommission. In seinem Mitte Januar 1919 abgeschlossenen Bericht zeichnete er ein düsteres Bild von der wirtschaftlichen und sozialen Situation im Bereich der Nachfolgestaaten. Er befürchtete ein Übergreifen revolutionärer Tendenzen selbst auf die Siegerstaaten und befürwortete als Gegenmaßnahme: „The Allies must practically, if not formally, treat the war with all parts of Austria as finished, and must give positive help in reconstruction there“21). Die Zukunftsaussichten eines deutschösterreichischen Staates beurteilte Beveridge als äußerst ungünstig. Er hielt die Gewährung einer Anleihe („which appears no less necessary as a means of enabling it to start trade with its neighbours than as a means of obtaining imported food“) unter der Vorbedingung garantierter Sicherheiten für unmöglich, denn: „Austria is a bankrupt with no assurance of ever being able to earn money again“ 22). Wie später noch bei einigen anderen prominenten britischen „Reconstructionalists“, tauchte auch schon bei Beveridge die Vorstellung von einer „Economic Confederation of the Danube“ auf, in deren Rahmen die strukturbedingten Schwierigkeiten Deutschösterreichs noch am ehesten eine Lösung würden finden können. Er schlug zunächst allerdings nur die Errichtung einer Wirtschaftskommission vor, welche den Austausch lebenswichtiger Güter zwischen Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien koordinieren und darüber hinaus den Bedarf an Lebensmittelimporten feststellen sollte. Die Aufgaben dieser Kommission müßten aber „clearly be kept in close touch with political questions“ 23). Die politischen Implikationen von Beveridges Memorandum wurden aber von Lord Reading, wie Harold Nicolson in seinem Tagebuch notierte, strikt abgelehnt: „Er besteht darauf, daß alles Politische ausgeschaltet bleibt von der Tätigkeit der vorgeschlagenen Hilfsmission. Er fordert nachdrücklich, daß ihre Aufgabe lediglich auf die Beschaffung und den Transport von Nahrungsmitteln beschränkt bleiben müsse. Die Mission dürfe nicht einmal an so verwandte Fragen rühren wie Arbeitslosigkeit oder Handelsabkommen zwischen Österreich und den Nachfolgestaaten: wenn sie sich auf dergleichen einläßt, wird man ihr vorwerfen, sie mische sich in die Politik, und dann wäre der Teufel los“ 24). 21) Interim Report by British Delegate (W. H. Beveridge), 1919 Januar 17: PRO FO 608 220. 22) Ebenda. 23) Ebenda. Beveridge schlägt außerdem vor: „a certain force of Entente troops should be concentrated in Czecho-Slovakia ... and sent out from there as required to support the work of the Commission“. 24) Harold Nicolson, Tagebuchnotiz, 1919 Januar 21: Harold Nicolson Friedensmacher (Berlin 5 u. «1934) 234 f.