Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)

HOFFMANN, Robert: Die wirtschaftlichen Grundlagen der britischen Österreichpolitik 1919

Britische Österreichpolitik 1919 257 Hoover, dem größte Vollmachten eingeräumt wurden, sah sich von An­beginn seiner Tätigkeit mit dem Problem der Versorgung Österreichs konfrontiert. Da nach der Konstituierung der Nachfolgestaaten die Le­bensmittellieferungen aus den früheren agrarischen Überschußgebieten der Monarchie ausblieben, hatte sich die Ernährungslage schon im Laufe des November 1918 entscheidend verschlechtert. Hilfsappelle aus Öster­reich und deren Bestätigung durch diplomatische Kreise der Alliierten in der Schweiz ließen Hoover und Lord Rufus I. Reading, den Leiter der britischen Lebensmittelbewirtschaftung, rasch reagieren. Während Hoover den tschechoslowakischen Präsidenten Masaryk veranlaßte, die Kohlenlieferungen nach Wien wieder aufzunehmen, schickten die Briten einen ersten Zug mit Lebensmitteln aus Heeresbeständen Mitte Dezember von Italien nach Österreich 17). Die rechtzeitige Belieferung der hungern­den Riesenmetropole Wien erschien vor allem den „Reconstructionalists“ innerhalb der beiden angelsächsischen Siegermächte, wie es Hoover for­mulierte, als „ein Rennen, sowohl gegen den Tod wie gegen den Kommu­nismus“ 18). Die immer wieder betonte karitative und antibolschewistische Motivation vermochte allerdings die Frage nach der Bezahlung der Hilfs­lieferungen nicht auszuschalten. Auf der Konferenz von Bern, wo die Österreicher in der letzten Dezemberwoche 1918 einer interalliierten Mis­sion die Versorgungslage verdeutlichen durften, mußten die amerikani­schen Delegierten zur Kenntnis nehmen, daß Österreich als Gegenleistung für den Wert von Lebensmittellieferungen praktisch nichts anbieten konn­te. Dies war nicht zuletzt auf die Weigerung von Briten und Italienern zurückzuführen, österreichische Vermögenswerte, wie Handelsschiffe und Goldbestände, noch vor der Festlegung der endgültigen österreichischen Reparationsleistungen für einen solchen Zweck freizugeben 19). Die Alli­ierten wollten unbedingt vermeiden, daß die aus amerikanischen Lebens­mittellieferungen erwachsenden Verpflichtungen der Feindstaaten Priori­tät vor allen übrigen Reparationsansprüchen genießen würden. Die Ame­rikaner dachten ihrerseits nicht daran, dem alliierten Drängen nach einem „Junktim zwischen Reparations- und Kriegsschuldenzahlungen“, wie es Keynes vorgeschlagen hatte, nachzugeben20). Die Folge war, daß die in­Abenteuer 1874—1920 1 (Mainz 1951) 257—268. Klaus Schwabe Deutsche Revolution und Wilson-Frieden. Die amerikanische und deutsche Friedensstra­tegie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918/19 (Düsseldorf 1971) 257-—261 zeigt, daß Wilson und Hoover die Versorgungsfrage unter dem Aspekt der „Offe­nen Tür“ sahen und deshalb davon ausgingen, daß die amerikanische Wirt­schaftskraft ungebunden bleiben müsse. i~) David F. Strong Austria (October 1918—March 1919). Transition from Empire to Republic (New York 1939) 249 f. 18) Hoover Memoiren 1 353. i») Brief von Taylor (Bern) an Hoover (Paris), 1918 Dezember 26: Suda Lorena Bane und Ralph Haswell Lutz (Hg.) Organisation of American Relief in Europe 1918—1919 (Stanford 1943) 118. Dr. Alonzo Taylor war der Leiter der vierköpfigen amerikanischen Delegation in Bern. 20) Vgl. Schwabe Deutsche Revolution und Wilson-Frieden 366 f. Mitteilungen, Band 30 17

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