Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)

HOFFMANN, Robert: Die wirtschaftlichen Grundlagen der britischen Österreichpolitik 1919

254 Robert Hoffmann Premier Lloyd George und sein Kabinett als oberste politische Führungs­instanz beschäftigten sich selten direkt mit der englischen Politik gegen­über Österreich und den anderen Nachfolgestaaten, „wenn auch außen­politische Entscheidungen, die andere europäische Länder betrafen, durch­aus einen indirekten Einfluß auf die englische Politik gegenüber Mittel­europa haben konnten“ 8). Letztlich wurde die Ausformung einer kon­kreten Friedenspolitik aber durch die mangelnde Fähigkeit von Foreign Office, Board of Trade (Handelsministerium) und Treasury (Finanzmini­sterium) geprägt, zusammen mit der wichtigen Bank of England und den privatwirtschaftlichen Interessensgruppen eine gemeinsame Definition der britischen Interessenslage und ein politisches Gesamtkonzept zu erstellen. Strittig blieb vor allem die Frage der realistischen Einschätzung des vor­handenen „Macht-(Wirtschafts-)Potentials“ und damit die Entscheidung über dessen Verfügbarkeit im Dienst politisch-strategischer Zwecke 9). Den Hintergrund dieser innerbritischen Kontroverse bildete die hohe Verschul­dung gegenüber den Vereinigten Staaten. Großbritannien hatte während der ersten drei Kriegsjahre die Hauptlast der alliierten Kriegsfinanzierung getragen. Der Eintritt der USA in den Krieg erweiterte 1917 die auch finanziell geschwächte Front der Alliierten um einen beinahe unbegrenzt kapitalkräftigen Partner, der allerdings nicht bereit war, seine Kredite direkt an jeden unterstützungsbedürftigen Verbündeten weiterzugeben, — wie es Großbritannien im Falle seiner kontinentalen Alliierten getan hatte. Die Folge war, daß die Vereinigten Staaten „einer so guten Adresse wie England zwar hinreichend Kredit einräumten, nicht aber ihr den Hauptteil der Kriegslasten für die übrigen Alliierten abnahmen“ 10). Der hohen britischen Verschuldung gegenüber den Amerikanern stand damit wohl eine noch höhere der übrigen Ver­bündeten in Großbritannien entgegen, doch konnte man angesichts der finanziellen Misere und drohenden sozialen Krise in den meisten dieser Länder keine baldige Entlastung erwarten. Die an Rußland geliehenen Kredite mußten ohnehin zur Gänze abgeschrieben werden. John Maynard Keynes, damals Mitglied der Treasury und 1919 Finanz­sachverständiger in der britischen Friedensdelegation, hegte deshalb schon im November 1918 die Befürchtung, daß die eigenen Forderungen „as 8) R e c k e r England und der Donauraum 35. ®) Schmidt Probleme der britischen Friedensstrategie 70. io) Helmut Lippelt J. M. Keynes und das finanzpolitische Ordnungspro­blem auf der Pariser Friedenskonferenz in Das Vergangene und die Geschichte. Festschrift für Reinhard Wittram zum 70. Geburtstag, hg. von Rudolf von Thadden u. a. (Göttingen 1973) 107: Bei Kriegsende hatten die Vereinigten Staa­ten zwar £ 1668 Millionen Außenstände, davon standen aber £ 800 in Groß­britannien, £ 485 in Frankreich, £ 275 in Italien und nur £ 38 im inzwischen bolschewistischen Rußland. Englands Schulden von £ 800 Millionen gegenüber den USA wurden hingegen von fast doppelt so hohen Außenständen, £ 1451, keineswegs aufgewogen; denn von diesen befanden sich allein £ 520 in Ruß­land, außerdem je £ 390 in Frankreich und Italien sowie £ 90 in Belgien.

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