Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916
250 Joachim Lilla In dem bereits erwähnten Gespräch zwischen Burián und Baernreither am 8. November 1916 weist Baernreither auch auf diese Problematik hin, worauf Burián entgegnet, es sei beabsichtigt, das neue Polen „gemeinsam einzurichten, nicht aber das eingerichtete gemeinsam zu verwalten“. Er ruft die schlechten Erfahrungen der gemeinsamen Verwaltung in Schleswig-Holstein (1864/1866) in Erinnerung. Aufgrund der militärischen Kräfteverhältnisse sei es aber unvermeidbar, daß in den militärischen Fragen das Deutsche Reich die Führung haben werde. Auch die geplante parallele Handelspolitik beider Staaten gegenüber Polen werde letztlich ein engeres wirtschaftliches Verhältnis Deutschland-Polen bedingen 9S). Trotz der Polenproklamation vom 5. November 1916 stand Polen weiterhin zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn, da deren Wortlaut kaum mehr als ein halbherziger Kompromiß war, der viel versprach und wenig halten konnte. Das Deutsche Reich erstrebte die Hege- monialstellung in Polen, die Österreich-Ungarn nicht zubilligen konnte, da es selbst nach wie vor an einer beherrschenden Einflußnahme in Polen interessiert war. Graf Czernin, seit Dezember 1916 Nachfolger Buriáns als Minister des Äußern und des kaiserlichen Hauses, war zwar im Jahre 1917 im Rahmen seiner Friedenspolitik vorübergehend bereit, auf ein weiteres Engagement Österreich-Ungarns in Polen zu verzichten — als Gegenleistung für den Verzicht Deutschlands auf Annexionen in Belgien. Es zeigte sich jedoch bald, daß dieses Junktim wenig erfolgreich war. So kehrte Czernin nach dem Scheitern seiner Friedenspolitik zur austropolnischen Konzeption zurück, die verstärkt von seinem im April 1918 wieder ins Amt berufenen Nachfolger Burián vertreten wurde. Der Sommer und Herbst 1918 brachte unter sehr veränderten politischen und militärischen Bedingungen wieder eingehende Verhandlungen zwischen den Zentralmächten über die polnische Frage, in deren Verlauf sich Burián gänzlich auf seine austropolnische Vorstellung zurückzog, einer Lösung, die selbst innerhalb der Monarchie kaum noch Rückhalt fand: weder bei Kaiser Karl mit seinen vagen Vorstellungen zur Rettung der Donaumonarchie, noch bei den Deutsch-Österreichern, die sich mit dem unabwendbar scheinenden Zerfall der Monarchie bereits abgefunden hatten, noch schließlich bei den Polen, denen die von den Alliierten zugesicherte Schaffung eines völlig souveränen polnischen Staates mit Zugang zum Meer verständlicherweise mehr zusagte als Buriáns austropolnisches Projekt. ®s) Vgl. S. 239 f und Baernreither Der Verfall des Habsburgerreiches 271 f.