Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916
248 Joachim Lilla Tschirschky wenig später mitteilte84). Der von Burián seit längerem geforderten Wiederaufnahme der Gespräche sollte entsprochen werden. Diesen Vorschlag greift Bethmann Hollweg auf und läßt sich für den 11./ 12. August 1916 zu einem weiteren Gespräch über Polen in Wien anmelden. Der Umschwung Buriáns ist gewiß mehr als nur „scheinbares Entgegenkommen“, wie es Fritz Fischer 85) interpretiert, denn er beinhaltete einen vorläufigen Verzicht auf die austropolnische Lösung. Wichtiger aber als die Wertigkeit der Taktik Buriáns sind die innenpolitischen Konstellationen, die seine Meinungsänderung bewirkt haben. Josef Redlich vermutet wohl zu Recht einen massiven Druck Tiszas auf Burián86). Tisza war einerseits daran gelegen, das polnische Problem in halbwegs befriedigender Form zu lösen, andererseits mußte er auf die Opposition im ungarischen Reichstag Rücksicht nehmen. Einer ihrer führenden Vertreter, Graf Andrássy, der gute Beziehungen zum deutschen Botschafter Tschirschky unterhielt, billigte die Politik Buriáns nicht mehr und wurde hierin von Appönyi und Rakovszky unterstützt. Andrássy wirft Burián „Pessimismus und Indifferenz“ vor, es wäre ihm „schließlich indifférent dans quelle sauce on nous mangerait finalement“ 87). Die Opposition griff Burián im Reichstag zusehends heftiger an, wodurch Tisza zum Eingreifen veranlaßt wurde, da er zur Lösung der durch den Krieg in Ungarn entstandenen Probleme die Unterstützung möglichst breiter Kreise der ungarischen Politiker benötigte. Es darf zudem nicht übersehen werden, daß die ungarische Regierung seit je her einen maßgeblichen Einfluß auf die Außenpolitik Österreich-Ungarns nehmen konnte und auch mußte, da der ungarische Regierungschef die Außenpolitik der Gesamtmonarchie vor dem ungarischen Reichstag verantworten mußte. Tisza war tunlichst daran gelegen, Burián im Amt des Außenministers belassen zu können; dies wäre aber bei einer weiteren Weigerung Buriáns, sich mit den deutschen Forderungen entgegenkommend zu befassen, unmöglich geworden 88). 84) Tschirschky an Auswärtiges Amt, 1916 August 5: Tisza vertrete den Standpunkt, daß bei Buriáns Formulierung hinsichtlich der militärischen Gleichstellung „ein Mißverständnis vorzuliegen“ scheine, und er sei sicher, daß ein für die deutsche Regierung „befriedigendes Ergebnis zu erreichen ist“. Der k.u.k. Kriegsminister Krobatin „war sichtlich verblüfft über den Standpunkt des Baron Burián“: ebenda. 86) Fischer Griff nach der Weltmacht 304. 8®) Tagebuch Redlichs 2 131 und 134. 87) Es gibt Anzeichen für eine von Tschirschky und Andrássy gegen Burián gesponnene Intrige: vgl. Hantsch Leopold Graf Berchtold 774 und 779; Äußerung Andrássys: ebenda. Die Politik Buriáns fand auch in Wien zunehmend Kritiker, wie auch aus den Stimmungsberichten Tschirschkys von Ende Juni/ Anfang Juli (vgl. Anm. 77) ersichtlich wird. 88) Tagebuch Redlichs 2 131 und 134; Galan tai Kriegszielpolitik 139; Burián Drei Jahre 190; Andrássy Diplomatie und Weltkrieg 167 ff.