Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916
Austropolnische Lösung 1914—1916 241 eine veränderte politische Situation in Ost- und Südosteuropa gestellt. Österreich-Ungarn wäre wieder ein Machtfaktor erster Ordnung geworden, somit auf das Bündnis mit Deutschland nicht mehr angewiesen und könnte das Deutsche Reich durch eine andere außenpolitische Orientierung gänzlich isolieren. Diese Möglichkeit wäre aber ohne den Anschluß Polens um einiges kleiner. Ein weiteres Moment beeinflußte überdies in zunehmendem Maße die deutsche Politik: die von militärischer Seite seit geraumer Zeit wiederholt geforderte Verwendung der polnischen Bevölkerung zu Kriegsdiensten in den Armeen der Mittelmächte57). Und schließlich ist es für die Reichsregierung gegenüber der deutschen Öffentlichkeit nicht zu verantworten, dem Bundesgenossen Österreich-Ungarn einen weitaus größeren Territorialgewinn zuzubilligen, als sie selber anstrebt: Bis Ende 1915 beschränken sich die deutschen Annexionswünsche im Osten auf das Baltikum und den polnischen Grenzstreifen. Die zwischen August und November 1915 vorhandene grundsätzliche Bereitschaft der deutschen Regierung, die austropolnische Lösung unter bestimmten Voraussetzungen zu akzeptieren, besteht nicht mehr. Bemerkenswert ist, daß dieser Wandel der deutschen Einstellung von der österreichischen Diplomatie nicht beizeiten erkannt worden ist. So beklagt sich Burián am 25. Februar 1916 in einem Schreiben an Bethmann Hollweg 58) über den „jetzigen Zustand der Planlosigkeit“ in der polnischen Frage. Er stellt erneut fest, man sei mit der deutschen Regierung „einig gewesen in der prinzipiellen Auffassung, daß das Königreich Polen, wenn es von Rußland abgetrennt wird, an die österreichisch-ungarische Monarchie angegliedert werden solle“. Zudem weist er darauf hin, daß „die Elastizität der österreichisch-ungarischen Monarchie sowie der sehr erprobte Bestand einer starken polnischen Gruppe in ihrem Bereich mit ausgedehnter nationaler Autonomie“ eine harmonische Integration des Königreichs Polen ermöglichen werde. Am 5. April 1916 erklärt Bethmann Hollweg im Reichstag59 60): „Unsere und Österreich-Ungarns Absicht ist es nicht gewesen, die polnische Frage aufzurollen; das Schicksal der Schlachten hat sie aufgerollt. Nun steht sie da und harrt der Lösung. Deutschland und Österreich-Ungarn müssen und werden sie lösen 80)... Den status quo ante kennt nach so ungeheuren Geschehnissen die Geschichte nicht... Das Polen, das der russische Tschi- nownik, noch hastig Bestechungsgelder erpressend, das der russische Kosak brennend und raubend verlassen hat, ist nicht mehr.“ Unter dem status quo ante ist der Verbleib Polens bei Rußland gemeint, der 57) Zum Beispiel Falkenhayn an Bethmann Hollweg, 1915 September 8: PAAA Deutschland ISO geh. Bd. 1. 58) PAAA Weltkrieg 20 c geh. Bd. 1 a. so) Bethmann Hollwegs Kriegsreden, hg. und eingeleitet von Friedrich T h i m m e (Berlin—Stuttgart 1919) 96 f. 60) Siehe auch Burián an Bethmann Hollweg, 1916 Februar 25: PAAA Weltkrieg 20 c geh. Bd. 1 a: „Das polnische Problem war ohne unsere Absicht als Folge des Krieges entstanden.“ Mitteilungen, Band 30 16