Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)

LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916

240 Joachim Lilla Preußen haben wollen; drittens: die Alldeutschen, die anfangs für die Zession Polens an Österreich-Ungarn waren, haben ihre Ansicht geändert; viertens: selbst die deutschen Agrarier waren gegen das Arrangement mit Österreich- Ungarn; fünftens: die militärischen Kreise waren sehr entschieden dagegen; sechstens: unsere Niederlage bei Lude hat der ganzen Idee den Rest gegeben. Das alles hat den Reichskanzler, der keine Argumente Vorbringen konnte, ver­anlaßt zu sagen: ich kann nichts mehr machen“ 53). Obgleich diese Analyse Buriáns erst erfolgte, nachdem sich die Situation in Polen grundlegend verändert hatte, ist sie doch aufschlußreich hin­sichtlich der Komplexität der Faktoren des deutschen Gesinnungs­wandels. VI „Wir haben der Angliederung Polens an Österreich eventualiter zuge­stimmt, weil wir die Gefahren einer Annektion oder auch nur eines An­schlusses an Deutschland erkennen und vermeiden möchten. Sind wir aber aus den oben angeführten Gründen 54) gezwungen, eine Überlassung ganz Polens an Österreich abzulehnen, so muß eine andere Lösung ge­funden werden. Und eine solche erblicke ich — so mißlich sie an sich sein mag — dann schließlich nur in der Gründung eines polnischen Staates unter festem Anschluß an Deutschland“ 55 56). Welche waren die Gründe, die die deutsche Reichsleitung bewogen, der Gründung eines eigenen polnischen Staates auf einmal nicht mehr ab­lehnend gegenüberzustehen? Die Argumente gegen eine engere Beziehung Deutschland—Polen oder eine Gründung eines autonomen polnischen Staates aus dem Sommer/Herbst 1915 sind bekannt. In der Zwischen­zeit hatte sich die militärische Lage auf dem Balkan zugunsten Öster­reich-Ungarns verändert: Das österreichisch-ungarische Armee-Oberkom­mando forderte verstärkt die Annexion von Serbien, Montenegro und Albanien, eine Forderung, gegen die die Reichsregierung billigerweise nicht viel einwenden konnte, da die südslawische Frage unmittelbarer An­laß des Weltkrieges gewesen war66). Eine Donaumonarchie, verstärkt durch Polen und die südslawischen Gebiete, hätte das Deutsche Reich vor 53) Aufzeichnung Baemreithers; Joseph Maria Baernreither Der Ver­fall des Habsburgerreiches und die Deutschen. Fragmente eines politischen Tage­buchs, hg. von Oskar Mitis (Wien 1938) 271. 54) Zuvor spricht Jagow davon, daß die österreichische Note vom 24. No­vember 1915 nicht befriedige, vor allem seien die Garantien bezüglich der Si­cherung des Deutschtums nicht gegeben worden. Der Anschluß Polens an Öster­reich, verbunden mit der Annektierung der südslawischen Staaten, wäre ein Machtzuwachs, „der für uns schwer erträglich sein würde“. 55) Jagow an Tschirschky, 1916 Februar 16: PAAA Weltkrieg 20 c geh. Bd. 1 a. 56) Ritter Staatskunst und Kriegshandwerk 3 137 ff, Fischer Griff nach der Weltmacht 294 ff.

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