Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916
Austropolnische Lösung 1914—1916 239 Deutschland auf die Zufälligkeiten im Gesetze nicht festgelegter innerer Gruppierungen aufzubauen, anstatt auf die Gesamtkraft und den Gesamtwillen aller gleichberechtigten Bürger der beiden Staaten der Monarchie“. Die führende Stellung ist und kann nicht „gesetzlich dekretiert“ werden, sie beruht „auf ihrem ziffermäßigen und spezifischen Gewichte. Sie mag Schwankungen ausgesetzt sein, wie es das politische Leben in einem Nationalitätenstaate mit sich bringt, aber sie kann nicht gefährdet werden.“ Mit Nachdruck weist Burián die deutsche Unterstellung zurück, daß Österreich-Ungarn „blos [!] ,eine germanische Ostmark* ist“. Die innere Struktur der Monarchie könne durch den Anschluß der Polen nicht gefährdet werden und Majorisierungsbestrebungen der Polen könnten institutionell verhindert werden. Burián schließt mit den entscheidenden Worten: „Die Polen sind nicht ohne weiteres als Werkzeug einer aggressiv antideutschen Tendenz unter ihren eventuellen künftigen Mitbürgern einzuschätzen. Sie sind Slaven, wie Deutsche und Engländer Germanen sind. Der allslavische Gedanke lebt in ihnen nicht. Er ist eine Konstruktion der russischen Politik“ 61). Burián hält also die deutsche Forderung nach einer Sicherung der Stellung der Deutschen in Österreich für gegenstandslos und entkräftet ein wichtiges Argument für eine Vertiefung des Bündnisses. Obgleich Burián gegen letztere grundsätzlich nicht viel einzuwenden hat, ist es offensichtlich, daß sie in der von Deutschland angestrebten Form nicht erreicht werden kann. Die deutsche Zustimmung zur austropolnischen Lösung aber ist mit der Erfüllung dieser Forderung eng und anscheinend unlösbar verbunden. Die in der Folgezeit einsetzende grundlegende Änderung der Einstellung der Reichsregierung gegenüber der austropolnischen Lösung resultiert aber nicht aus der skeptischen Haltung Buriáns zum von deutscher Seite angestrebten engeren Bündnis. Burián hatte bereits bei seinem ersten Zusammentreffen mit Bethmann Hollweg erkannt52), daß künftige Differenzen nicht auszuschließen seien. Deutschland hatte in Polen zwei wichtige Interessen zu vertreten, die des Exports und der Garantie seiner eigenen polnischen Gebiete. Diese wirtschafts- und innenpolitischen Gründe sind der Reichsregierung ausreichender, vielleicht gar willkommener Anlaß, ihre Einstellung gegenüber der austropolnischen Lösung zu ändern; hinzu kommt die immer geringer werdende Aussicht auf angestrebte Annexionen im Westen und das Drängen von militärischer Seite. In einem Gespräch mit Joseph Baernreither am 8. November 1916 befaßt sich Burián mit diesem Fragenkomplex. Er bemerkt, die Deutschen seien „eines Tages errötend erschienen und haben erklärt, daß sie ihr Angebot nicht aufrechterhalten könnten“, also ihre prinzipielle Zustimmung zur austropolnischen Lösung zurückzögen. Auf die Frage Baernreithers nach den Gründen meint Burián: „Erstens: die deutsche Schwerindustrie ist auf den Geschmack von Polen gekommen; zweitens: die Konservativen haben die Ostgrenze in der Hand von si) Note der k.u.k. Botschaft Berlin, 1915 November 24: ebenda. 5Z) Vgl. Burián Drei Jahre 69.