Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)

LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916

236 Joachim Lilla obgleich sich „eine vollbefriedigende Lösung der polnischen Frage ... schwer finden lassen“ wird: 1. „als geringstes Übel .. die Belassung bei Rußland“, da sich hierbei das heikle Problem der polnischen Frage von selbst erledige; der Verbleib bei Ruß­land sei aber aus politischen Gründen nicht mehr vertretbar; 2. „ein ganz unabhängiges Polen“; 3. „ein an Deutschland bzw. Preußen angeschlossenes Polen“; 4. „ein zwischen Deutschland und Österreich geteiltes Polen“ — auch diese Mög­lichkeiten lehnt Jagow ab: Für einen selbständigen Staat „sind die Polen in keiner Weise reif“, ein Anschluß an das Reich oder Preußen wäre wegen der Zunahme „an polnischen und jüdischen Staatsangehörigen ... ein nationales Unglück, welche Bedenken für das deutsche Teilgebiet auch im Falle einer Tei­lung mit Österreich bestehen bleiben;“ 5. „ein autonomes Polen unter österreichischer Oberhoheit“: Diese Möglichkeit werde von der Regierung in Wien gewünscht; „ein anderer territorialer Sieges­preis wird sich für die Monarchie kaum finden und man wird ihr diesen nur schwer vorenthalten können“. Sodann befaßt sich Jagow mit der organisatorischen und verfassungs­rechtlichen Form des Anschlusses, mit dem geplanten Subdualismus, aus dem sich eine Stärkung der Stellung des deutschen Elements in Österreich ergeben müsse. Zudem sieht er die günstige Gelegenheit einer (Zwangs-) Umsiedlung von im künftigen deutsch-polnischen Grenzstreifen lebenden Polen in austropolnisches Gebiet — verbunden mit der kategorischen Ab­lehnung der Aufnahme österreichischer Polen und Juden in die reichs- deutsche beziehungsweise preußische Staatsangehörigkeit. Ein besonderes Problem bildet die Sicherung des deutschen Exports nach Polen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß vor dem Krieg immerhin zwei Drittel der deutschen Ausfuhren nach Rußland in Russisch-Polen abgesetzt wurden: Die Österreicher würden Polen kein eigenes Zollgebiet konzedieren kön­nen, da selbst zwischen Österreich und Ungarn keine Zwischenzölle be­stünden. Entscheidend für Deutschland sei aber die sich aus dem Anschluß Polens an Österreich ergebende Stärkung des Deutschtums. Nachdem die Polen innerhalb Österreichs künftig weitgehend autonom leben könnten, biete sich den Deutsch-Österreichern die Möglichkeit, „den Kampf Aller gegen Alle in Cisleithanien“ einzudämmen: ... vor allem werden sie, wenn die Staatsleitung nicht völlig versagt, die Tschechen an die Wand drücken können. Der Separatismus wird eher stärker werden, wenn er sich auf der Basis dreier größerer Nationalitäten entwickeln kann: neben den Magyaren ein gestärktes Deutschtum und ein vermehrtes Po- lentum. In allen 3 Gruppen, je unabhängiger sie voneinander leben können, wird sich nationale Eigenart und damit auch das Trennende noch stärker ent­wickeln. Eine bloße Personalunion — und darauf wird es schließlich, wenn auch nicht staatsrechtlich, so doch faktisch hinauskommen — kann nicht zur Verschmelzung führen. Der Gang der Dinge in der Monarchie, der auf den Aus­einanderfall dieser Gruppen hinweist, wird sich wohl aufhalten, aber kaum ganz abweisen lassen. Aufhalten läßt sich der Zerfall nur, solange der deutsche Einfluß präponderiert, und dieser muß seine Anlehnung bei uns suchen. Tritt diese Krisis einmal ein, so werden die deutschen Länder Österreichs uns zu­fallen. Und wir haben für diese Eventualität alles Interesse daran, daß das

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