Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916
Austropolnische Lösung 1914—1916 235 „notwendigen strategischen Grenzberichtigungen“. Bei einer militärischen Niederlage Rußlands hingegen ergebe sich „eine doppelte Eventualität: Entweder es entsteht ein autonomes Königreich Polen, durch Bündnis oder Militärkonvention mit uns oder Österreich-Ungarn eng verbunden, oder der größere Teil von Kongreßpolen wird mit Galizien zu einem unter österreichischer Herrschaft stehenden Staatsgebilde vereinigt.“ Die bei der zweiten Lösung ebenfalls erforderlichen Grenzberichtigungen müßten „vielleicht etwas weiter zu fassen sein, jedoch nicht so weit, daß das Ganze auf eine vierte polnische Teilung hinausläuft, die vermieden werden muß“3S * * *). Bethmann Hollweg zeichnet hier die beiden Lösungsmöglichkeiten der polnischen Frage auf, die für Deutschland derzeit politisch vertretbar scheinen. In dem Gespräch mit Burián am 13. August lehnt Bethmann Hollweg die Angliederung Polens an das Deutsche Reich ebenso ab wie ein völlig selbständiges Polen, woraus Burián — als argumentum ex silentio — schließt39), die deutsche Reichsregierung hätte nichts gegen die von ihm vertretene austropolnische Konzeption einzuwenden 40). Daß Buriáns Einschätzung der persönlichen Auffassung Bethmann Hollwegs in der polnischen Frage zu diesem Zeitpunkt durchaus richtig war, belegen andere ähnliche Äußerungen des Reichskanzlers: Die Angliederung Polens an Österreich stelle „die für uns am wenigsten ungünstige Lösung“41) dar, beziehungsweise halte er sie „für die zweckmäßigste Lösung“ 42). So erklärt Burián in der bereits erwähnten Sitzung des Gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie vom 5. Oktober 1915, es sei „in Übereinstimmung mit der deutschen Regierung“ beabsichtigt, „Polen in den Interessenkreis der Zentralmächte zu ziehen, und zwar sei seine Angliederung an die Monarchie in Aussicht genommen“ 43). Der deutsche Standpunkt wird ausführlich in einer Denkschrift des Auswärtigen Amtes dargelegt, die Jagow am 2. September 1915 dem Reichskanzler vorlegt44). Jagow zeigt verschiedene Lösungsmöglichkeiten auf, 88) Bethmann Hollweg an Treutier (für Falkenhayn), 1915 August 4: PAAA Weltkrieg 20 c geh. Bd. 1, auch Deutschland 180 geh. Bd. 1. Zur Frage des polnischen Grenzstreifens vgl. Imanuel G e i s s Der polnische Grenzstreifen. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im ersten Weltkrieg (Hamburg—Lübeck 1960) passim. S9) Vgl. Stephan Graf Burián Drei Jahre aus der Zeit meiner Amtsführung im Krieg (Berlin 1923) 67 f, 71. 40) Ritter Staatskunst und Kriegshandwerk 3 130 f; Conze Polnische Nation 80f; Wolfgang Steglich Bündnissicherung und Verständigungsfrieden (Göttingen 1958) 40; B u r i á n Drei Jahre 69 ff. 41) Bethmann Hollweg an Falkenhayn, 1915 September 11: PAAA Weltkrieg 20 c geh. Bd. 1. 42) Bethmann Holl weg zu Burián: Steglich Bündnissicherung 40; vgl. auch Burián Drei Jahre 72. 48) Prot Gem MR 290. Siehe S. 222 f. 44) PAAA Weltkrieg 20 c geh. Bd. 1.