Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916
232 Joachim Lilla Welche Konzeption deutscher Kriegspolitik lag dieser Rolle einer „germanischen Ostmark“ zugrunde, die Österreich in den Vorstellungen deutscher Politiker zu spielen hatte? Das Schlag wort „Mitteleuropa“ 29) umreißt diese Vorstellungen am besten; allerdings kann die deutsche Reichsregierung nicht den Anspruch der Originalität für die Begriffsschöpfung im Sinne eines politischen Programms erheben. Mitteleuropa bedeutet grundsätzlich — auch bereits im neunzehnten Jahrhundert — einen engeren wirtschaftlichen und letztlich auch politischen Zusammenschluß mitteleuropäischer Staaten, seinerzeit vor allem des geographischen Deutschlands und Österreichs. Die deutsche Reichsregierung forderte bereits in den ersten Wochen des Weltkrieges die „Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen ... Dieser Verband, wohl ohne konstitutionelle Spitze, unter äußerer Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muß die deutsche Vorherrschaft in Mitteleuropa stabilisieren“ 30). Nach diesen — in ihrer eindeutigenden Offenheit fast entwaffnenden — Plänen Bethmann Hollwegs sollten dem Wirtschaftsverband angehören: Frankreich, Belgien, die Niederlande, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und unter Umständen noch Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Vorherrschaftsanspruch Deutschlands, entstanden in illusionistischen Träumen deutscher Politiker und Patrioten, verdient besondere Aufmerksamkeit in bezug auf den Bündnispartner Österreich-Ungarn sowie Polen. Ein knappes Jahr nach Bethmann Hollwegs Septemberdenkschrift sieht Falkenhayn einen engen militärischen Zusammenschluß „des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns, Bulgariens und der Türkei zu einem langfristigen Schutz- und Trutzbündnis“ als die Möglichkeit, der seiner Auffassung nach vom britischen Kriegsminister Lord Kitchener inspirierten alliierten Taktik einer Erschöpfung Deutschlands und seiner Verbündeten zu begegnen; Falkenhayn fügt hinzu, es dürfe unerläßlich sein, diesem Bund „auch wirtschaftliche und politische Ziele zu stecken“ 31). Das Junk29) Zu Mitteleuropa allgemein und auch zum folgenden vgl. Henry Cord Meyer Mitteleuropa in German Thought and Action (Den Haag 1955) passim; zur Problematik Mitteleuropa 1915/1916 und zum Junktim Polen-Mitteleuropa vgl. Paul R. Sweet Germany, Austria-Hungary, and Mitteleuropa in Festschrift für Heinrich Benedikt zum 70. Geburtstag (Wien 1957) 180—212; Ritter Staatskunst und Kriegshandwerk 3 113—143; Peter Graf Kielmannsegg Deutschland und der erste Weltkrieg (Frankfurt/Main 1967) 291 f. 30) Ziffer 4 der Septemberdenkschrift Bethmann Hollwegs von 1914 September 9, nach Z e c h 1 i n Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (Teil 4) in Aus Politik und Zeitgeschichte (B 20/63) 42 ff; zur Genesis der mitteleuropäischen Idee in der Septemberdenkschrift vgl. dsbe Deutschland zwischen Kabinettskrieg und Wirtschaftskrieg in HZ 199 (1964) 347—458, hier 419—424; auch Fritz Fischer Griff nach der Weltmacht (Düsseldorf 31964) 113—119. sl) Falkenhayn an Bethmann Hollweg, 1915 August 28: Sweet Germany, Austria-Hungary, and Mitteleuropa 181. Falkenhayn meint zudem: „Auch