Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916
230 Joachim Lilla gen Berchtolds beim Einzug der verbündeten Armeen in Warschau verlesen werden sollte und den Polen den Anschluß an die Monarchie verkündete. Die deutsche Reaktion auf Berchtolds Forderung war ausweichend22): Jagow äußerte gegenüber Szögyény, daß er sich „ohne höhere Entscheidung“ nicht zu den Vorschlägen äußern könne und ihm „überhaupt der Zeitpunkt für Bestimmungen über das künftige Schicksal Polens noch verfrüht“ sei. Berchtold faßte diese Worte Jagows anscheinend günstiger auf, als sie waren, denn bereits am 16. August ließ er Jagow „zu der... erteilten Zustimmung ... wärmsten Dank“ aussprechen. So vermutete Jagow, es handele sich um ein absichtliches Mißverständnis, um die polnische Frage weiterhin zur Diskussion stellen zu können, und teilte Tschirschky mit, die österreichischen Vorschläge seien „selbstverständlich unannehmbar“, die ganze Angelegenheit möge weiterhin „dilatorisch“ behandelt werden23). Der Standpunkt Berchtolds wurde erneut in einer Note dargelegt, die Szögyénys Nachfolger Prinz Hohenlohe am 26. August Unterstaatssekretär Zimmermann überreichte 24). Hierin spricht sich Berchtold mit Nachdruck gegen die Schaffung eines selbständigen polnischen Staates aus und fordert für den Fall eines militärischen Sieges der Mittelmächte dessen Anschluß an Österreich-Ungarn, wobei aber während einer Übergangszeit eine Teilung des Besatzungsgebietes mit getrennter deutscher beziehungsweise österreichisch-ungarischer Verwaltung eingeräumt wird; allerdings erscheint es ihm „unerläßlich, daß die kaiserlich Deutsche Regierung bereits heute einflußreichen polnischen Kreisen gegenüber kein Hehl [daraus] macht, daß die Besetzung polnischer Gebiete durch deutsche Truppen einen lediglich provisorischen Charakter trage“ 25). Die „dilatorische“ Behandlung des polnischen Problems bis zu entscheidenden militärischen Ereignissen an der Ostfront fand nunmehr auch in Wien weitgehend Zustimmung. Inzwischen hatte sich dort die Meinungsbildung dahingehend entwickelt, daß insbesondere auf Drängen Tiszas eine Angliederung Polens an die österreichische Reichshälfte überwiegend befürwortet wurde. Besonderer Wert wurde von Stürgkh und Hoyos, aber auch von „berufenen Vertretern der Interessen der Deutschen“ in 22) Jagow an Auswärtiges Amt, Koblenz, 1914 August 18: PAAA Europa gen. 79 Bd. 12. 23) Auswärtiges Amt an Tschirschky, 1914 August 18: ebenda. 24) Note der österreichisch-ungarischen Botschaft Berlin, 1914 August 25: ebenda. Vgl. auch Ritter Staatskunst und Kriegshandwerk 3 126; Prot Gern MR 145 f. 25) Dieser Vorschlag beinhaltet eine wesentliche Veränderung des Standpunktes des österreichisch-ungarischen Ministeriums des Äußern in dieser Frage. An anderer Stelle dieser Denkschrift heißt es: „Die k.u.k. Regierung hatte anfangs die Absicht, daß ihre Verwaltungsorgane auch die Verwaltung der von deutschen Truppen besetzten Gebiete Russisch Polens in einem gewissen Ausmaß übernehmen sollten.“