Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)

LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916

Austropolnische Lösung 1914—1916 225 deute. Hoyos stellt aber fest, daß diese Forderungen „das Minimum dessen [bedeuten], was im Interesse der Gesamtmonarchie verlangt werden müßte, wenn man diese nicht dem Zerfalle aussetzen will“. Tisza wie Hoyos lehnen also die trialistische Lösung der polnischen Frage ab: Tisza aus der Perspektive des Verteidigers mühselig errungener un­garischer Privilegien und Souveränität, Hoyos aus der Perspektive ge­samtösterreichischen Interesses. Wenngleich anscheinend verschieden moti­viert, sehen beide die einzig vertretbare Möglichkeit eines Anschlusses Polens in dessen Angliederung an die österreichische Reichshälfte — sei es im Zuge einer tiefgehenden Verfassungsreform etwa durch Hoyos’ Vor­schlag einer Föderalisierung Österreichs, sei es durch eine bloße Vereini­gung Galiziens mit Kongreß-Polen zu einem österreichischen Kronland unter Gewährung bestimmter Autonomie. In der Sitzung des Gemeinsamen Ministerrates vom 5. Oktober 1915 legte Ministerpräsident Graf Stürgkh eine Denkschrift der k. k. Regierung vor, die sich eingehend mit der Durchführung eines subdualistischen Anschlusses Polens an die österreichische Reichshälfte befaßte8). Als konkretes Vorbild für diesen Subdualismus — gewissermaßen ein Dualis­mus en petit — könnte am ehesten die Sonderstellung Kroatiens im Königreich Ungarn herangezogen werden, unter Beachtung der gänzlich verschiedenen inneren Strukturen der Reichsratsländer und Ungarns. Eingangs wird der besonderen Schwierigkeit einer Angliederung Polens Rechnung getragen. Es kommt darauf an, sowohl „eine wesentliche Ver­schiebung der Kräfteverhältnisse im Staate“ zu vermeiden, als auch die Kompetenzen der Zentralgewalt zu garantieren. Im einzelnen legt die Denkschrift dar, daß den Polen in vielen Bereichen der Gesetzgebung Autonomie gewährt werden, daß die Exekutive hingegen weitgehend der Aufsicht der Zentralgewalt Vorbehalten bleiben solle. Obgleich die legis­lativen Befugnisse nur negativ umschrieben werden („alle Bereiche, die nicht ausdrücklich dem Wirkungskreise des Reichsrats... Vorbehalten sind“), ist klar, was darunter zu verstehen ist: vornehmlich Angelegen­heiten des Kultus, der Selbstverwaltung, der Landesfinanzen. Nicht in die Kompetenzen eines künftigen polnischen Landtags sollten die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten fallen, ferner die Bereiche der Finanz-, Wirtschafts-, Militär- und Ver­kehrspolitik, deren einheitliche Behandlung für alle Reichsratsländer vor­gesehen war. Über die letztgenannten Belange sollte — sofern Polen be­troffen war — eine aus Mitgliedern des Reichsrats und des polnischen Landtags bestehende Kommission beraten. Ist in der Gesetzgebung die einen Dualismus neben anderem kennzeich­nende weitgehende Gleichberechtigung der Partner gegeben, ändert sich 8) Prot Gem MR 309—312 (Anlage A zum Protokoll der Sitzung von 1915 Oktober 5). Mitteilungen, Band 30 15

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