Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
LILLA, Joachim: Innen- und außenpolitische Aspekte der austropolnischen Lösung 1914–1916
222 Joachim Lilla II Das von Österreich-Ungarn während des Ersten Weltkrieges beharrlich geforderte Kriegsziel eines Anschlusses Polens an die Monarchie berührt nicht allein das Verhältnis zum verbündeten Deutschen Reich auf diplomatischer und militärischer Ebene, sondern in besonderem Maße — durch die Frage des rechtlichen Rahmens des Anschlusses — das dualistische Prinzip und somit letztlich auch die Stellung Ungarns in einer durch Polen erweiterten Monarchie. Dieser Komplex impliziert neben dem Problem der Haltung der Ungarn zu einer möglichen Änderung des Dualismus die zentrale Frage nach der Belastbarkeit der dualistischen Struktur: War eine Änderung ohne Gefährdung des Bestandes der Monarchie überhaupt möglich? Ein Anschluß Polens hätte für die Monarchie einen erheblichen Gebietszuwachs bedeutet und die grundsätzliche Frage aufgeworfen, welche Konsequenzen hieraus für den Dualismus erwachsen würden 1). Die theoretisch denkbare Form eines Trialismus mit den Reichsdritteln Reichsratsländer (ohne Galizien), Polen und Ungarn — von der Berchtold 1914 ausgeht — fand in der Sitzung des Gemeinsamen Ministerrates vom 5. Oktober 1915 2), in der das polnische Problem diskutiert wurde, keine Zustimmung. Der Vorsitzende, der Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern Baron Burián, wies darauf hin, er habe in Gesprächen feststellen können, daß die „Möglichkeit eines Trialismus von allen kompetenten Faktoren abgewiesen werde“ 3). Schärfer noch formulierte es der ungarische Ministerpräsident Graf Tisza: Er forderte, den Polen dürfe keine Hoffnung auf eine trialistische Lösung gemacht werden; es müsse ihnen unmißverständlich zu verstehen gegeben werden, „daß die dualistische Struktur der Monarchie ein noli me tangere bildet und ein jedes von ihr ') Die einzige faktische Gebietserwerbung Österreich-Ungams nach 1867 — die 1908 erfolgte Annexion Bosniens und der Herzegowina — berührt dieses Problem nicht, da durch den Status eines Kondominiums das dualistische Gefüge nicht berührt wurde. 2) Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1914—1918 (Veröffentlichungen des Ungarischen Staatsarchivs, Budapest 1966), hg. von Miklós Komjáthy 290 f (im folgenden: Prot Gem MR). 3) Ebenda 291. Obgleich der Realisierung einer trialistischen Lösung zu diesem Zeitpunkt keine Chancen mehr einzuräumen waren, gab es dennoch zu diesem Zeitpunkt Verfechter des Trialismus auch in Ungam, zum Beispiel Julius Graf Andrássy und Stephan Bethlen: vgl. Joszef Galantai Kriegszielpolitik der österreichisch-ungarischen Monarchie und die ungarische Regierung in Österreich-Ungarn 1867—1967 (hg. vom Institut für Österreichkunde [Wien 1970]) 137—147, hier 141; vgl. auch Julius Graf Andrássy Diplomatie und Weltkrieg (Wien—Berlin 1920) 162 ff: Andrássy berichtet von einer Entgegnung Tiszas auf sein Bekenntnis zum Trialismus: „Du wirst doch nicht den Dualismus preisgeben wollen, gerade Du, der Sohn jenes Mannes, der den Dualismus geschaffen.“