Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 30. (1977)
RILL, Gerhard: Zur Geschichte der österreichischen Konsulargerichtsbarkeit in Bosnien
österr. Konsulargerichtsbarkeit in Bosnien 165 spricht nicht, daß Osman Pascha in der Frage der Ansiedlung dalmatinischer Untertanen und hinsichtlich der Beweiskraft österreichischer Pässe eine den Konsuln entgegengesetzte Linie verfolgte, — die wiederum in wesentlichen Punkten den Überzeugungen Prokeschs entsprach36). Auslösendes Moment für die Aufnahme dieser örtlichen Gegensätze in die höhere Diplomatie war ein an sich belangloser Zwischenfall Anfang Jänner 1862, die Verhaftung zweier Bewohner des Dorfes Merdschai (Mracaj) im türkischen Grenzbezirk Grahovo durch österreichische Grenzposten, wobei laut türkischer Darstellung die Festnahme auf türkischem, laut österreichischer Version auf österreichischem Territorium erfolgte. Im Laufe des Dienstweges der türkischen Beschwerde vom Vizemudir von Grahovo über den Mudir von Livno und den Kaimakam von Travnik zum Vali von Bosnien und von diesem zum Generalkonsul in Sarajevo wie auch zur Pfortenregierung wurde der angebliche Tatbestand der Grenzverletzung jedoch um zahlreiche andere Beschwerdefälle angereichert, die sich auf die verschiedensten Differenzen zwischen lokalen und konsularischen Behörden bezogen. Eine Note der türkischen Botschaft vom 6. April 1862 erwähnte neben dem Grenzübergriff bereits allgemein das Verhalten des Generalkonsuls und des Konsularagenten von Livno37), und zum Jahresende folgte die eingangs erwähnte Kallimachi-Aktion, die eingehende Recherchen nach sich zog. Das auf diese Art gesammelte Material österreichischer und türkischer Stellungnahmen vermittelt einen interessanten Querschnitt durch die Problematik der Kapitulationen und deren Anwendung zu einer Zeit, als die Verträge zumindest als modifikationsbedürftig angesehen wurden. Erstaunlich ist die Hartnäckigkeit, mit der auf beiden Seiten um Details gestritten wird, erschreckend die Selbstverständlichkeit, mit der die Entscheidung über gut und böse einem starren, in vielen Fällen unzureichenden Regulativ untergeordnet wird. In dem ersten von türkischer Seite angeführten Verfahren, das sich über nahezu zwei Jahre hinzog, ging es lediglich um den Besitz eines Pferdes. In türkischer Sicht bot das Verfahren der Lokalbehörde keinerlei Anlaß zur Kritik. Nachdem der österreichische Untertan Ivan „Polak“ aus Bitelic den türkischen Staatsbürger Dragoila Csuro wegen unrechtmäßigen Besitzes einer angeblich ihm, Polak, gehörigen Stute verklagt hatte, wurde in Gegenwart des Mudirs und des österreichischen Konsularagenten vom Medslis zu Gunsten Csűrös entschieden. Dembicki forderte eine neuerliche Verhandlung. Während Polak zwei Zeugen nominierte, erbrachte Csuro das Zeugnis „aller Dorfbewohner“ dafür, daß die Stute von seinem, Csűrös, Mutterpferd gewor36) Berichte des Generalkonsulatsverwesers Konrad Wassitsch, 1860 April 5 und Juni 7: PA XXXVIII138. 37) Korrespondenz betr. Grenzverletzung bei Grahovo, 1862 Jänner 15 — Juni 23 in Admin. Reg. F 8/35 (Bosnien-Herzegowina, Sarajevo — Streitfälle Livno). Auf diesem Konvolut beruht auch die Wiedergabe der folgenden Prozesse; in den Anmerkungen werden nur Ergänzungen aus anderen Quellen angeführt.