Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 28. (1975) - Festschrift für Walter Goldinger

NECK, Rudolf: Oswald Redlich und das österreichische Archivwesen

382 Rudolf Neck Angelegenheiten, dar. Die Zuständigkeit dieser Dienststelle für alle Verhand­lungen mit auswärtigen Staaten blieb ebenso aufrecht, wie bei allen anderen derartigen Spezialmissionen, die im diplomatischen Verkehr häufig Vorkom­men, in der Gegenwart noch mehr als vor einem halben Jahrhundert. Die Be­fugnisse Redlichs deckten sich ihrem Rechtscharakter nach mit denen eines Vertragsunterhändlers, der mit einer Generalvollmacht für alle Verhandlun­gen über einen bestimmten Fragenkomplex mit allen in Betracht kommenden Staaten ausgestattet ist. Weiterer besonderer Vollmachten bedurfte er nicht. Seine Verhandlungsergebnisse unterlagen jedoch, wie die aller Vertragsun­terhändler, die ja auch sonst oft aus dem Kreis von Fachleuten ausgewählt zu werden pflegen, der Genehmigung der dafür juristisch bzw. völkerrecht­lich und auch nach der österreichischen Verfassung zuständigen Organe. Im Konkreten war Redlich vor allem mit der Vorbereitung der grundlegen­den Übereinkünfte und mit der Regelung grundsätzlicher Meinungsverschie­denheiten befaßt. Dabei kam ihm seine wissenschaftliche Autorität zustatten. Waren doch die Partner, die Archivfachleute der Gegenseite, vielfach seine Schüler, die es umso schwieriger hatten, sich den Argumenten ihres ehemali­gen Lehrer zu widersetzen, als er sich bei den Verhandlungen von archivwis­senschaftlichen Grundlinien leiten ließ. Diese werden unter der technischen Bezeichnung „Provenienzprinzip“ zusammengefaßt. Dieses Prinzip sieht im wesentlichen vor, daß jeder Archivkörper, in dem Zusammenhang und an dem Ort belassen werden muß, der sich aus seiner „Provenienz“ ergibt. Diese Provenienz oder Herkunft bezieht sich nicht auf das einzelne Schriftstück bzw. auf die Person oder Behörde, von der es ausgestellt wurde, sondern auf den ganzen Archivkörper seiner Entstehung nach. Ziel ist daher die Scho­nung des organisch erwachsenen Bestandes eines Archivkörpers als ganzes. Das Provenienzprinzip hat sich in der Archivwissenschaft des 19. Jahrhun­derts erst allmählich gegen den Betreff- (Pertinenz-) Grundsatz durchsetzen können und hat nun in den von Redlich geführten Verhandlungen zu einigen sehr bemerkenswerten Erfolgen geführt. Aber nicht alle Ergebnisse entspra­chen den Erwartungen, oft waren die politischen Realitäten stärker als die wissenschaftlichen Argumente. Überdies konnten auch auf Grund des Prove­nienzprinzips gewisse archivalische Einbußen nicht verhindert werden. Redlich hat aber in dieser schwierigen Zeit auch auf das österreichische Ar­chivwesen nach innen gewirkt. Die Durchführung der archivalischen Ausein­andersetzung in den einzelnen Archiven und Registraturen erfolgte durch die betreffende Fachbehörde selbst, aber nach den vom Archivbevollmächtigten erteilten Richtlinien. Überdies war Redlich noch immer stellvertretender Vorsitzender des Archivrats, der ja noch dem Namen nach fortbestand, und trieb dessen organisatorische Bestrebungen weiter. Die Vorteile eines einheit­lichen Beamtenkörpers waren den Archivaren gerade in den letzten Jahren der Monarchie erst so richtig klar geworden. Redlich gelang es in den Jahren 1919-1920, eine Arbeitsorganisation der Direktoren der Wiener Zentralar­chive auf die Beine zu stellen. In diesem Rahmen wurde eine Archivordnung

Next

/
Thumbnails
Contents