Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 28. (1975) - Festschrift für Walter Goldinger
NECK, Rudolf: Oswald Redlich und das österreichische Archivwesen
Redlich und das österreichische Archivwesen 381 Schichtsforschung. Nach einer kurzen Tätigkeit am Innsbrucker Archiv 1897-1900 war er neun Jahre am niederösterreichischen Statthaltereiarchiv in Wien beschäftigt und seit 1909 im Archiv des Ministeriums des Innern. Er dürfte demnach über vielfältige archivarische Erfahrungen verfügt haben, als er an das Nervenzentrum des neuorganisierten Archivwesens der westlichen Reichshälfte berufen wurde. Zu Redlich stand er auch in einem sehr engen persönlichen Verhältnis, was aus dem erschütternden Brief anläßlich des Zusammenbruchs des alten Reiches besonders deutlich wird10). Wilhelm war zuletzt 1923—1930 Direktor des Wiener Hofkammerarchivs. Im Nachlaß Redlich findet sich auch eine Reihe von Denkschriften und Sitzungsprotokollen, die vor allem beweisen, welch hoffnungsvolle Entwicklung auf dem Gebiet des Archivwesens durch den Ersten Weltkrieg und dessen Folgen abgebrochen wurde. Die Mitteilungen, die der Archivrat herausgab - bis 1918 wurden es drei Bände - waren von hoher archivwissenschaftlicher Qualität, und auch sonst zeichnete sich die interne Tätigkeit durch ein beachtliches Niveau aus. Schon im Kriege ging man an die leidige Frage der Abgrenzung von Registratur und Archiv. Als Fälle von blindwütigen Skartie- rungsaktionen in einigen Bezirken bekannt wurden, schritt der Archivrat sofort ein. 1915 wurde der Entwurf für ein Archivalienschutzgesetz fertiggestellt, mit dem ausdrücklichen Hinweis, wie weit Österreich auf diesem Gebiet noch zurückliege. Unterdessen wurden die Beratungen und Planungsarbeiten zur Reorganisation der Archive der Zentralstellen und deren Unterbehörden auch im Krieg intensiv fortgesetzt. Zur Reife gelangten sie allerdings erst nach dem Zerfall der Monarchie und wurden gerade durch deren Ende in gewisser Beziehung aktualisiert. Nach dem Umsturz war zunächst Ludo M. Hartmann mit der Leitung des Haus-, Hof- und Staatsarchivs betraut und von der provisorischen Staatsregierung zum Archivbevollmächtigten ernannt worden. Ende 1918 ging er als Gesandter nach Berlin und sein Nachfolger in beiden Funktionen wurde wieder Oswald Redlich. Die Archivleitung hatte er bis Juni 1919 inne, als er von Oskar Mitis abgelöst wurde. Wesentlich länger blieb er Archivbevollmächtigter der Regierung, ein Amt, das ihm in der schwersten Zeit des österreichischen Archivwesens eine ungeheure Verantwortungslast aufbürdete11). Redlichs Hauptaufgabe war es, mit den Nachfolgestaaten über deren Ansprüche auf das in Österreich verwahrte Archivgut zu verhandeln. Das Amt des Archivbevollmächtigten stellte sich in dieser Beziehung als eine Spezialmission im Rahmen der Staatskanzlei (später Bundeskanzleramt), Äußere 10) Wilhelm an Redlich, 1918 November 9: HHStA Nachlaß Redlich 2. n) Ludwig Bittner Das Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv in der Nachkriegszeit in Archivalische Zeitschrift 35 (1925) 141; dsbe Die zwischenstaatlichen Verhandlungen über das Schicksal der österreichischen Archive nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns in Archiv für Politik und Geschichte 3 (1925) H. 1 58ff; Goldin- ger Geschichte 44f.