Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)
GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel
Tagebuch Orel 409 liehe Reform durchgeführt werden. Ender bezeichnet das sehr erregt als eine Utopie, die Leute seien für solche Aufgaben ganz unfähig. Höchstens vielleicht in (seinem) Vorarlberg wäre derartiges möglich. Sonst aber würden mindestens 20 Jahre vergehen müssen, bis man dort angelangt sein werde, wo ich schon heute sein möchte. Er sei gern bereit, seinen Platz zu räumen. Ich müßte eine andere Regierung einsetzen, die wüßte, wie man es anders machen könne. Ich entgegnete, daß ich schon Leute wüßte, die das könnten, aber über keine Möglichkeit verfüge, Einfluß auf die Zusammensetzung und Funktion der Regierung auszuüben. Ich lege Einzelheiten dar — da Ender für Trennung von Kleingewerbe und Fabriken sich ausspricht —, die zeigen, daß die Neuordnung bei Trennung gar nicht möglich ist (Bäcker, Margarinefabriken — 35.000 Köche „zu viel“ ...). Ender meint, was ich verlange, geschehe ohnehin. Im Jänner 1938 würden Arbeitgeber und -nehmer' zusammengefaßt, im Herbst 38 würden allgemein ständische Wahlen durchgeführt und dann später würde den Ständen sehr vorsichtig nach und nach eine oder die andere Funktion zugewiesen werden. Ich lege dar, daß wir nicht so lange warten könnten. In 5 Jahren würden in Wien überhaupt keine Kinder mehr kommen; wir seien ein sterbendes Volk. Die Arbeitslosen müßten unbedingt wieder in die Wirtschaft eingegliedert werden. Die Hälfte der Jugend könne nicht mehr in eine geordnete Berufsbahn gelangen. Ender lächelnd: „Nun sehen Sie: das Problem löst sich doch von selbst!“ (Ich sagte, daß keine Kinder mehr kommen würden!!!). Er bezeichnet durch eine Bewegung als selbstverständlich, daß ich von Schuschnigg nicht empfangen würde. Ich verweise auf die dringenden Aufforderungen der Encykliken, deren Drohungen; das dürfe man doch nicht in den Wind schlagen. (Ender ist Präsident des Obersten Rechnungshofes und Leiter des Ständeaufbaues.) Als ich sagte, die Ständeordnung funktioniere doch nicht und man rede weit und breit von deren Versagen, entgegnete Ender: „Aber wir haben ja noch gar keine Stände, sie bestehen ja noch gar nicht!“ Er sei ja eben mit dem Aufbau beschäftigt. Bei diesem könnten auch die gemachten Fehler nach und nach korrigiert werden. (42) Beschlagnah me. Wegen der Beschlagnahme der Geißel (13. Oktober Der Sumpf als Bauland) telegraphierte ich am 15. Oktober an S. R. Kisser und erhalte für 16. Oktober Empfang bei Pilz. Ich sei des Nazismus verdächtig, solle eingesperrt und Die Geißel eingestellt werden. Samstag, 9. Oktober, ein Polizeiagent bei Pawlik, [hat] sich über die vaterländische Gesinnung des Bundes für Soziale Reform und über meine Beziehungen zum Bund und Blatt erkundigt. Ich rede kurz vom „deutschen Propheten“37), von Siegfried und meinem Brief an Hfitler]. Pilz liest das Konzept. Es gefalle ihm nicht. Wie ich dazu komme, diesem astrologischen Nervenbündel zu schreiben, der alle paar Tage Tobsuchtsanfälle bekomme. Selbstverständlich, daß der Brief von der Polizei gelesen worden ist. „Glaubst Du, daß H. ihn in die Hand bekommt?“ Ich solle abwarten, ob ein Verfahren gegen mich eingeleitet werde. In dieses könne er nicht eingreifen. Laufe es aber, so könne ich ein Abolitionsgesuch einreichen und er werde es befürworten und alles mögliche tun, damit es Bewill37) Der „deutsche Prophet“ ist Richard Wagner. Nach Orels Meinung habe Wagner in seinen Opern unbewußt eine Vorhersage der Entwicklung gegeben. Orel veröffentlichte auch unter dem Titel ,Der deutsche Prophet‘ Kommentare zu Wagners Opern.