Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

404 Ernst Joseph Görlich zweites wären autarke kleine Wirtschaftskörper, die sich freiwillig bilden, wie jetzt die Juden in Deutschland sie einrichten.“ Ich: „Solche autarke Körper wa­ren doch vielfach entstanden.“ Ich verweise auf die zahlreichen Rechenwirt­schafts- und Tauschgenossenschaften. „Aber sie sind gesetzlich unterdrückt wor­den, indem man Anschluß an einen Kontrollverband vorschrieb und diesen An­schluß unmöglich machte.“ Pilz verweist auf die Schwindeleien bei einer Genos­senschaft in Baden. Ich: „Aber Dutzende andere haben sehr gut gewirkt und mußten doch liquidieren.“ Ich verweise auf Kirchner, St. Johann 20). Schließlich sagte Pilz, die heutige Besprechung habe nur den Zweck gehabt, daß er einiger­maßen mich kennenlerne. Heute sei nicht weiter Zeit, aber er sehe, daß die Sache ernst sei, sie interessiere ihn. Er wolle noch näher informiert sein. „Hast du schon mit Schuschnigg zu sprechen versucht?“ Ich: „Nein, nach meiner Kenntnis ist an ihn nicht heranzukommen.“ Ich verwies auf Prof. Wilhelm Schmidt, der 2—3 Monate warten müsse, bis er vorgelassen werde. Pilz bestätigt und sagt, er wolle sich bemühen, mir die Tür zu Schuschnigg zu öffnen. Er vereinbart eine längere Besprechung am 14. September mit mir. 14. September, 10—11 Uhr. Ich verweise auf unser Manifest und komme gleich auf die Ständebildung zu sprechen. Pilz stimmt manchem zu und macht viele Einwände. Er erweist sich als ganz im zentralistisch-etatistischen Denken be­fangen. Wo ich von Reformen, die die Stände zu besorgen hätten, rede, sieht er immer die Notwendigkeit von Staatsgesetzen. Er gibt zu, daß die Einteilung in die ,Hauptgruppen1 der Verfassung schwer verfehlt sei: Ein Chaos sei der Stand .Freie Berufe“; unsinnig der Stand .öffentlicher Dienst“; gibt auch nach meiner Begründung zu, daß es verfehlt ist, die Fabriken (Hauptgruppe .Industrie“) vom Gewerbe zu trennen. Dagegen hält er an dem Stand .Geld- und Kreditwesen“, .Versicherungswesen“ fest. Für den Eigenkredit seien die Stände zu schwach (ich verweise auf zwischenständischen Kredit). Und da ich sage, das kapitalistisch so lukrative Versicherungswesen dürfe in einer wahren Ständeordnung nicht als Geschäft, sondern müsse als gegenseitige Hilfeleistung betrieben werden, meint Pilz, es sei heute kein Geschäft mehr, seit dem Phönixkrach. Damals hätte man die Hand auf das Versicherungswesen legen und seine Verstaatlichung androhen sollen, das internationale Versicherungskapital hätte sich dann zur Schadens­deckung sofort bereit erklärt. Auch das Bankwesen sei heute kein Geschäft mehr. Dann gab er aber doch gleich wieder zu, daß die Direktoren ungeheure Gewinne machten und deshalb nicht zulassen würden, daß das Kredit- und Versicherungswesen sozialisiert würde. Da ich von der Notwendigkeit der direk­ten Verbindung von Produzenten und Konsumenten durch Überwindung der Handelshypertrophie rede, meint Pilz, der Handel habe sich doch immer als die billigste Verkehrsvermittlung erwiesen. Ich weise auf den parasitären Zwischen­handel hin, z. B. die 800 jüdischen Wiener Möbelhändler, die die Tischler und Tapezierer zugrunde richten. Pilz: „Du verlangst also ein Gesetz: Möbel sind vom Handel ausgeschlossen. Da werden die jüdischen Händler sich einen Ge­werbeschein verschaffen.“ Er verweist auf die Kommerzwerkstätten zur Umge­hung. Ich rede davon, daß das doch alles innerständische Angelegenheiten sind, die eines Staatsgesetzes nicht bedürfen. „Lassen wir doch die Stände aufwach­sen und sich selbst einrichten“! Pilz meint, er denke daran, mich nicht mit Schuschnigg, sondern mit Ender in Verbindung zu bringen, der ja die Agenden des Ständebaues zu führen habe. Neustädter-Stürmer habe zuerst alles Beste­hende zerstören wollen, um ganz neu zu beginnen. Da Pilz unvorhergesehen fort mußte, mußten wir abbrechen. Im Fortgehen vereinbarten wir eine dritte Un- 29 29) Johann Kirchner, Bauer in St. Johann i. P., ein alter Anhänger Orels, der sich mit allerlei sozialen Experimenten im kleinen Wirkungskreis abgab.

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