Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

Tagebuch Orel 405 terredung am 20. September und sagte er mir noch: „Ich kenne dich von früher her nur von deinem Kampf gegen den Zins.“ „Ja, wenn man den Zins beseitigen könnte“, sagte er wie in Gedanken versunken, „damit würde man den Kapita­lismus ins Herz treffe n“. Dann sprach er unvermittelt von einem Geist­lichen aus Vorarlberg, dessen Namen er vergessen habe, der Versammlungs­reden gegen die Reichen halte wie ein Bolschewik. Ich fragte, ob er vielleicht Gorbach so) meine, worauf er lebhaft bejahte. Im Verlauf der Besprechung hatte Pilz die Hypertrophie des Staats- und Beamtenapparates lebhaft bejaht. Vogelsang bezeichnete er als „überholt“. 20. September, 10 bis 11 Uhr. Nach einigen einleitenden Kontroversen über Lehensordnung wurde hauptsächlich die Kaufkraftbildung diskutiert, auch die Vorschläge von Quadragesimo anno, Reininghaus, Sonnek* 31), Silvio Gesell32) (von dem Pilz gar nichts wußte). Ich konnte auch Irrtümer über die sogenannte Reformation, Luther, Bauernkriege berichtigen. Ich konnte widerspruchslos die verderbliche .deflationistische Wirtschaftspolitik Kienböcks“ darlegen, die zur Wirtschaftsschrumpfung beiträgt. Die interessantesten und deprimierendsten Äußerungen tat Pilz, als wir (da seine Referenten schon warteten) aufbrechen mußten. Ich stellte die Frage: „Was schaut aus unseren Besprechungen heraus? Werden sie ihren Zweck erreichen?“ Pilz plädiert für Fortsetzung. „Ich lerne viel dabei“, sagt er und wir vereinbaren, da er nächste Zeit verreisen muß, den 4. Oktober. Ich weise auf die allgemeine tiefe Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem herrschenden System hin und auf die wachsende Verelendung: „In fünf Jahren werden überhaupt kaum noch Kinder geboren werden. Wir sterben ja.“ Ich verweise auf die furchtbare Lage der Handwerker und Lohnarbeiter, zitiere den von Zunftmeister Frey in der Studienrunde mitgeteilten Ausspruch eines Zunftgenossen: „Jetzt sind wir enteignet, entrechtet und entmündigt.“ Pilz gibt die jämmerliche Lage des Handwerkes zu. Bezüglich der Lohnarbeiter, des Proletariates meint er: „Die Arbeiter werden immer nur knapp das haben, was sie zum Leben brauchen“. Ich: „Dann ist der Bolschewismus unvermeid­lich.“ Pilz zuckt die Achseln: „Schon Christus hat gesagt: ,Arme werdet ihr immer bei euch haben“.“ Ich: „Arme, ja; es wird immer Kranke, durch Unfälle und Verbrechen in Not geratene, Krüppel usw. geben. Aber das Massenelend darf und braucht es nicht zu geben.“ Wieder kommt Pilz auf Gorbach zu reden und nennt ihn einen Kommunisten. Dann verweist er auf den Pfarrer von Ober-Waltersdorf, der von der Kanzel immer gegen die Fabrikanten und Groß­grundbesitzer losgehe — aber es nützt nichts, die Kirche bleibt doch leer! Ich: „So weit ich sehe, sind für das jetzige System nur die Juden und die Kapitali­sten; auch nicht aus Begeisterung, [sondern] weil sie an dessen Ersatz durch ein anderes eine Verschlechterung ihrer günstigen Lage befürchten. Sonst aber wüßte ich keine größere Bevölkerungsgruppe, die für die Regierung wäre. Im Anschluß an frühere Erörterungen verwies ich auf die Notwendigkeit, wenn eine Sozialreform gelingen solle, die Jugend für sie zu begeistern und in den Kampf zu führen — denn mit den Alten ist nichts zu machen. Pilz: „Unsere (Regierungs-)Arbeit kann sich nicht in Superlativen bewegen; wir können nur langsam im Kleinen aufbauen. Dafür kann man keine Begeisterung erwecken.“ so) Prälat Gorbach war zu dieser Zeit Herausgeber einer kleinen Wochen­schrift, des Zwei-Groschen-Blattes. 31) Ing. Sonnek axis dem Kreis um Anton Orel bemühte sich vor allem um den Familienlastenausgleich zugunsten kinderreicher Familien. 32) Silvio Gesell (1862—1930), Begründer der Lehre vom Schwundgeld und der Freiwirtschaft (Abschaffung des Kapitalzinses), 1919 Finanzminister der bayerischen Räteregierung.

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