Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

Tagebuch Orel 403 Hälfte nicht einmal mehr eine geordnete Lebensbahn findet und großen Teils dem Verbrechertum zugetrieben wird. Er bestätigt das, redet von den ungeheu­erlichen Mordtaten junger Leute. Ich schildere den ganz falschen Weg, der mit dem staatlichen „Jungvolk“ eingeschlagen wurde: „Als dieses gegründet wurde, ging ich zu Thurn-Valsassina, der mich an Reinitz wies. Dieser gab mir den Lehrplan für die ersten Jugendführerkurse: 25% Stunden Leibesübungen und vormilitärische Erziehung, dagegen 1 Stunde Gesellschaft und Wirtschaft. So denkt das Unterrichtsministerium über die Jugendführung. Damit weiß man völlig genug. Die Schulkinder werden wöchentlich zweimal zu 2—3 Stunden Exerzieren und Spielen zusammengeholt. Das heißt geistige Entleerung der Ju­gend und Vorbereitung des Bolschewismus. Die Staatsjugendführung versagt also völlig. In der Wirtschaft haben wir jetzt eine Welthochkonjunktur, die allerdings in der Hauptsache Rüstungs-Scheinkonjunktur ist.“ Pilz: „Aber in England ist doch eine wirkliche Hochkonjunktur.“ Ich: „Nach meiner Sitiit nur zum Teil, infolge des riesigen Kolonialbesitzes. Aber das ist Nebensache. Was ich sagen will, ist: unsere kapitalistische Industrie nimmt innigen Anteil an der Weltkonjunktur, namentlich die Rüstungsindustrie.“ Pilz fällt ein: „Macht Überstunden!“ — Ich: „Unbezahlte, anstatt daß Arbeitslose eingestellt werden.“ Pilz nickt zustimmend und zuckt die Achseln. Ich: „Jetzt in der Zeit der Hoch­konjunktur steigen die Aktiendividenden und -kurse.“ Pilz fällt ein: „Sollen sie auch!“ Ich: „Und die Aktienunternehmungen zahlen an die Banken riesige ein­gefrorene Kredite zurück. Anstatt daß diese Summen zur Steigerung der Löhne, zur Kaufkraftbildung verwendet würden. Also die Kapitalprofite steigen, das Massenelend bleibt. Was wird erst werden, wenn der Konjunktur die Depression folgen wird?“ Pilz: „Dann sind wir umso besser daran, weil der Rückschlag bei uns nicht so groß sein wird! Was willst du also eigentlich?“ Ich: „Ich will große gründliche Reform. Dafür gibt es nicht ein Rezept, ein Universalheilmittel. Sondern das Übel muß von allen Seiten her, von vielen Ansatzpunkten her an­gegangen werden. Schrittweise, aber konzentrisch aufs Ganze zu. Ich will nicht Experimente. Im Gegenteil. Mit dem Experimentieren soll endlich aufgehört werden. Seit 1914 wird experimentiert und wir wissen aus der Erfahrung, daß diese Experimente zum Tod führen. Um nur einige Hauptgruppen von Refor­men zu nennen — jede hat viele Unterteile —: wahre Ständebildung, Aufbau einer neuen Lehensordnung, Kaufkraftbildung, gründliche Finanzreform, Bo­den- und Siedlungsreform. Es würde sich darum handeln, eine Zentralstelle für Sozialreform zu bilden, die diese in lebendigem Kontakt mit allen gesunden Volkskräften und unter deren Mitberatung und Mitarbeit durchführt. Das ganze Volk würde da begeistert mitgehen, während das jetzige Regime keine Fühlung mit diesen Kräften hat.“ Pilz bricht in heftige Klagen aus. „Ich bin“, sagt er, „völlig eins mit Schuschnigg. Seine Reden sind hervorragend und ausge­zeichnet ausgearbeitet, finden aber eisige Aufnahme beim Volk. Schuschnigg hat keinen Weg zum Volk, er vermag es nicht zu begeistern. Wüß­test du nicht jemanden, der das verstünde? Was meinst du etwa zu Dr. Kühr(?)?“ Ich: „Ich kenne ihn nicht; nach dem aber, was ich von den Leuten, die ihn ken­nen, hörte, kommt er kaum in Frage.“ Pilz: „Theoretiker!“ Pilz macht selbst zwei Vorschläge. Er hielte es für notwendig und zweckmäßig, die anonymen juristischen Personen zu beseitigen: „Wenn damit geholfen wäre: ich brauche nur meinen Beamten den Auftrag zu geben; in 14 Tagen liegt der Gesetzesent­wurf ausgearbeitet vor.“ Ich: „Ach, so geht das nicht. Selbstverständlich kann es in einer wahren Ständeordnung keine Aktiengesellschaften geben. Aber be­seitigen kann man sie erst dann, bis von unten auf die gesunden Ersatzgebilde gewachsen sind, die die beseitigten kranken Bildungen in ihrer sozial-wirt­schaftlichen Funktion ersetzen. Das alles muß wohl vorbereitet sein.“ Pilz: „Ein 26*

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