Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

Tagebuch Orel 377 che in Österreich keine eigene Universität besitzen — ich halte nationale Universitäten für ein Unding, weil sie nur zur Spaltung zwischen den Völkern Österreichs beitragen — für rechtlos erklärt, denn ein Gast hat keine Rechte“ 4). Orel stand in diesem Augenblick zweifellos am Beginn einer aussichts­reichen Laufbahn. Hat sich doch auch später einer seiner Brüder, Dr. Al­fred Orel, als Professor an der Universität Wien einen Namen gemacht. Der entscheidende Einschnitt in seinem Leben war jedoch die Bekannt­schaft mit den Schriften des katholischen Sozialreformers und langjähri­gen Chefredakteurs des Wiener Tagblattes Vaterland, mit Baron Karl von Vogelsang 5). Durch Vogelsang für die soziale Frage gewonnen, wurde Anton Orel der Gründer der ersten auf christlichem Boden stehenden Arbeiterjugendbewegung der Welt6). Orel hatte neben den Schriften Vogelsangs auch noch ein praktisches Beispiel vor Augen. Der französische katholisch-demokratische Jugendführer Marc Sanguier (1873—1950) ver­suchte damals, mit seiner Jugendgruppe des „Sillon“ der offiziellen ka­tholischen Organisation in Frankreich, die royalistisch und streng kon­servativ gesinnt war, eine Bewegung entgegenzustellen, die auf sozial- reformerischem und demokratischem Boden stand. Dieser „Sillon“ Marc Sanguiers wurde später unter dem Druck der royalistischen „Action Frangaise“ und deren Führer Charles Maurras (1868—1952) und Léon Daudet (1867—1942) 1910 von Papst Pius X. (1903—1914) kirchlich verbo­ten. Der „Sillon“ war übrigens die erste Vorstufe einer sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich bildenden katholisch ausgerichteten Par­tei, die in der Vierten Republik auch an der Regierung beteiligt war und zu der Politiker wie Bidault und Schuman gehörten. Die von Anton Orel geschaffene christliche Jungarbeiterbewegung erlebte zwischen 1904 (dem Jahr ihrer Gründung) und 1909 ihre heroische Zeit. Es gelang Orel, für seine „Lehrbuben“ und „Lehrmädchen“ beacht­liche praktische Vorteile zu erzielen. Insbesonders erscheint heute die Verbesserung des Gewerbeschulunterrichtes, die 1907 vom Nieder­österreichischen Landtag beschlossen wurde, als vorzügliches Verdienst der Tätigkeit Anton Orels7). Freilich hatte er sich durch seine sozialen 4) Vgl. Orel Fünf Jahrzehnte Wiener Periode 1. Kapitel. 5) Über Vogelsang gibt es eine reiche Literatur. Vgl. Wiard Klopp-Vo- g e 1 s a n g Die sozialen Lehren des Freiherrn Karl v. Vogelsang (St. Pölten 1894); dsbe Leben und Wirken des Freiherrn Karl v. Vogelsang (Wien 1930); Anton Orel Vogelsangs Leben und Lehren (Wien 1927); Ernst Joseph Gör- 1 i c h Karl v. Vogelsang (Linz 1968). «) Vgl. Orel Fünf Jahrzehnte Wiener Periode 1. Kapitel. 7) Niemand anderer als der spätere Wiener Bürgermeister Karl Seitz aner­kannte dieses Verdienst Orels, als er am 25. Januar 1910 im Niederösterreichi­schen Landtag den Christlichsozialen zurief: „Was Ihnen unangenehm an dem Mann ist, das ist, daß er unter Berufung auf Ihr Christentum und auf Ihr an-

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