Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)
GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel
378 Ernst Joseph Gör lieh Forderungen auch innerhalb der Christlichsozialen Partei starke Gegner geschaffen. Als 1909 die 1907 beschlossenen Verbesserungen wieder rückgängig gemacht werden sollten und Orel sich einem diesbezüglichen Beschluß nicht fügen wollte, kam es zwischen ihm und der Christlichsozialen Partei zum entscheidenden Bruch 7a). Sein bisheriger Kampfgefährte, der christlichsoziale Arbeiterführer Leopold Kunschak (1871—1953), blieb der Partei treu und machte im Rahmen der Partei eine Karriere, die ihn nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Stuhl des Ersten Präsidenten des österreichischen Nationalrates führte. Aber nicht bloß die Christlichsoziale Partei, auch ein Großteil des österreichischen Klerus und des Episkopates stellte sich gegen Orel und seine Bewegung. Dies hatte auf ihre Entwicklung besonders seit dem Tod des Wiener Kardinal-Erzbischofs Dr. Nagl (gest. 1913) und des Papstes Pius X. (gest. 1914) starken Einfluß, denn beide Hierarchen standen auf Orels Seite. Ebenso gelang es ihm, Verbindung zum Belvedere, dem Sitz des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand d’Este, aufzunehmen. Orel begeisterte sich leidenschaftlich für die großösterreichischen Ideen des Erzherzog-Thronfolgers und hielt an ihnen bis zu seinem Tod fest. Es glückte ihm nicht bloß, in einer Verwandten der Thronfolger-Gemahlin, in der Gräfin Maria Henriette Chotek (1880—1945), eine aktive Mitarbeiterin zu finden, die die Orel’sche Presse subventionierte, sondern auch, Verbindung mit Jugendverbänden der nichtdeutschsprachigen Völker Österreich-Ungarns herzustellen. Zu Pfingsten 1913 wurde die „Verbündete Katholische Jugend Österreichs“ geschaffen, in der deutschsprachige und tschechische Jugend verbände vereinigt waren und deren Absicht auch der Anschluß slowenischer, polnischer, rumänischer und anderssprachiger Jugendorganisationen war — eine Absicht, die wegen des ausbrechenden Ersten Weltkriegs nicht mehr verwirklicht werden konnte. * 3 gebliches christliches und soziales Programm Sie zwingen wollte, die 36stün- dige Sonntagsruhe für die jugendlichen Arbeiter zu statuieren“. 7a) In dem ersten wirklich objektiv wissenschaftlichen Buch über Orels Bruch mit der Christlichsozialen Partei (Reinhard Knoll Zur Tradition der frühen Christlichsozialen Partei bis zum „Sündenfall“ 1907 [Wien 1973]) stellt der Verfasser eindeutig fest, daß 1. Orel in den wesentlichen Streitpunkten im Recht war, sich aber gegen die mächtige Parteibürokratie nicht durchsetzen konnte; 2. Kunschak bis fast zuletzt auf Orels Seite stand und erst durch Luegers persönliches Eingreifen, das bis zur brutalen Drohung der Existenzschädigung ging, auf die Parteilinie einschwenkte. Orel verdrängte aber zeitlebens diese Handlungsweise Luegers, weil er in ihm ein „Vaterbild“ erblickte; 3. die Christlichsoziale Partei durch diesen „Sündenfall“ von einer aktiven sozialradikalen Partei, die sich im Sinne der Päpste und Vogelsangs für eine Änderung der Gesellschaftsordnung einsetzte, zu einer der vielen „bürgerlichen „Parteigruppierungen wurde und 4. Orel selbst durch die sich ständig steigernden Angriffe von Partei und episkopaler Seite immer mehr in die Rolle eines „Einsiedlers“ gedrängt wurde, dessen Kontaktfreudigkeit ständig abnahm, was ihm die Züge eines „messianischen Propheten“ verlieh.