Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

376 Ernst Joseph Görlich Obwohl Anton Orel in Wien geboren worden war, besuchte er nach einer dienstlichen Versetzung seines Vaters die vierte Volksschul- und die beiden ersten Gymnasialklassen in Olmütz. „Mein Gymnasialdirektor Seyß“ — schreibt Orel in seinen Lebenserinnerungen — „war der Vater jenes unglücklichen Dr. Seyß-Inquart, der, in Hitlers Netze geraten, im März 1938 von Miklas unter dem Zwang von Hitlers Ultimatum zum Nachfolger Schuschniggs als Bundeskanzler ernannt wurde und Öster­reichs Vernichtung durch den preußisch-nationalsozialistischen Einmarsch zu decken hatte“ 3). Nachdem Orels Vater, der eine kurze Dienstleistung im Militärspital in Przemysl geleistet hatte, in den Ruhestand getreten war, kehrte die Fa­milie wieder nach Wien zurück. Der junge Anton wurde in das Jesuiten­gymnasium nach Kalksburg (NiederÖsterreich) bei Wien geschickt. Hier bestand Anton Orel 1899 die Reifeprüfung. Es wäre der Wunsch der Eltern gewesen, daß Anton möglichst rasch einen Brotberuf erwählt hätte. Den jungen Studenten zog aber das stu­dentische Treiben und der Aufstieg der damaligen Christlichsozialen Par­tei mehr an. Im Juli 1899 nahm er am zweiten praktisch-sozialen Kurs in Wien teil: er wurde mit Politikern wie Prinz Alois Liechtenstein, Dr. Al­bert Geßmann, Dr. Richard Weißkirchner (später Bürgermeister von Wien), Dr. Franz Martin Schindler und anderen Führern der Christlich­sozialen Partei näher bekannt. Auch der spätere ungarische Ministerprä­sident Karl Huszár (1882—1941) gehörte zu Orels Bekannten. Auf stu­dentischem Boden schloß sich Orel der katholischen Hochschulverbindung „Norica“ an und trat der akademischen Studentenkongregation in der Wiener alten Universitätskirche (auf dem heutigen Dr. Ignaz Seipel Platz) bei. Durch die Studentenkongregation fand er wieder Beziehungen zu der „Unione Cattolica Italiana“ und deren Präsidenten und Gründer, dem späteren italienischen Ministerpräsidenten Alcide de Gaspari (1881—1954), mit dem Orel bis zu de Gasparis Tod in Beziehung blieb. Ebenso fand Anton Orel freundschaftlichen Zugang zum slowenischen Studentenverein „Danica“. Es ist für Orels Einstellung bezeichnend, daß es der „Danica“ mit seiner Unterstützung gelang, einmal einen Slowenen zum Präfekten (= Obmann) der Studentenkongregation wählen zu lassen. Noch am 12. Mai 1904 schrieb der Obmann der „Danica“ Karl Kapuder an Orel: „Es freut uns sehr, daß gerade Sie, den wir am meisten unter allen unseren deutschen Kommilitonen schätzen gelernt haben, Ihre alte treue Gesin­nung der ,Danica“ gegenüber trotz der uns befremdenden Haltung der deutschen katholischen Korporationen bewahrt haben“. Orel erklärt diese Sätze wie folgt: „diese (= die deutschen katholischen Korporationen) hat­ten nämlich gemeinsam mit den Deutschnationalen den Nichtdeutschen an der Wiener Universität nur Gastrecht zugebilligt und die Slowenen, wel­3) Vgl. Orel Fünf Jahrzehnte Wiener Periode 1. Kapitel.

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