Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 25. (1972) - Festschrift für Hanns Leo Mikoletzky
NECK, Rudolf: Von den Kategorien der historischen Vernunft
520 Rudolf Neck Ja gerade die Fortsetzung Hegels im Marxismus verschärfte diese Problematik erheblich. So fruchtbar die Annahme der Geschichte als eines dialektischen Prozesses für viele Zweige unserer Forschung geworden ist, der Widerstreit von Monismus und Pluralismus führte geschichtsphilosophisch in eine Sackgasse 13). Aber schwerer wiegt noch das Problem des sozialen Determinismus im Zusammenhang mit der Forderung des aktiven Eingreifens des Menschen in den Gang der Geschichte 14). Der Begriff der Praxis und die Anwendung naturwissenschaftlicher Kategorien auf die Vergangenheit, die Suche nach der historischen Notwendigkeit in einem Geschichtsprozeß, dessen Totalität unterstellt wird, dies alles konnte nur Verwirrung stiften 15). Eine Kluft zwischen der Geschichtstheorie und der Forschung tat sich auf, die seither nicht mehr überbrückt wurde. Der Effekt wurde nämlich noch verstärkt durch eine weitere ideengeschichtliche Erscheinung, den wissenschaftlichen Positivismus. Wir wollen ihn hier, außerhalb der logischen und mathematischen Systeme, nur im philosophischen Sinn verstanden wissen, als ein Verfahrensprinzip, das alles auf Beobachtung, Empirie gründet16). Schon der geistesgeschichtliche Hintergrund um Comte weist auf die engen Zusammenhänge mit dem Scientismus rein naturwissenschaftlicher Prägung hin. Darum konnte auch der Neopositivismus, etwa der Wiener Kreis mit seinem Konstitutionssystem der empirischen Begriffe, der Geschichtswissenschaft nichts bieten 17). Die großen universalhistorischen Systeme eines Spengler oder eines Toynbee, die sich auf Empirie im engsten Sinne zu stützen vermeinen, wurden von der Fachhistorie nur mit Mißtrauen zur Kenntnis genommen und haben nur sehr teilweise Wirkungen gezeitigt18). Die konsequente Weiterführung der Theorien des 19. Jahrhunderts führte in unserer Zeit zu einer Ontologisierung der Geschichte und soweit, daß etwa Marcuse vom „zerstörenden Charakter der Wahrheit“ sprechen konnte 19). ls) Renato Cirell C z e r n a Über marxistische Geschichtlichkeit in Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie in Wien 1968 2 (Wien 1968) 20 ff. 14) Vgl. Helmut Fleischer Marxismus und Geschichte (Frankfurt/M. 1969). 15) Johann Jürgen Vogeler Das Problem des sozialen Determinismus in der Philosophie Hegels, des Marxismus und des Existentialismus in Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie in Wien 1968 6 (Wien 1971) 546 ff. 1C) D. G. Charlton Positivist Thought in France during the Second Empire (Oxford 1959). 17) Viktor Kraft Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus. Ein Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte (Wien 1968) 77 ff. 18) Othmar A n d e r 1 e Das Universalhistorische System Arnold Joseph Toynbees (Wien 1955) 10 ff. 19) Milan K a n g r g a Zum utopischen Charakter des Geschichtlichen oder Wie steht es mit der Utopie? in Praxis 6 (1970) 237 ff.