Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 25. (1972) - Festschrift für Hanns Leo Mikoletzky

AUER, Leopold: Zum Wahrheitsproblem in der Geschichte

Zum Wahrheitsproblem in der Geschichte 515 Urteile dritter eine Wertung suggeriert werden kann. Es fragt sich, ob nicht die Versachlichung selbst verzerrt, indem sie den Aspekt des Mensch­lichen außer acht läßt. In der Wiedergabe strategischer Operationen, zahlenmäßiger Verluste und zurückgelegter Kilometer wirkt die Schilde­rung eines Krieges sehr nüchtern, klar und reinlich. Wird aber durch das Übergehen von Not, Leid und Elend der Betroffenen, dessen Schilde­rung zwangsläufig einem wertenden Aspekt unterliegt, nicht ein wesent­licher Teil der Wirklichkeit abgeschnitten44)? Die Auslieferung an das Faktische bringt nur zusehr die Gefahr mit sich, es zugleich als das Not­wendige, Natürliche und einzig Mögliche anzusehen 45). Schließlich scheint noch ein weiterer Faktor gegen die Formel von der wertfreien Wissenschaft auf dem Gebiet der Historie zu sprechen, und das ist die Frage nach dem Nutzen der historischen Wissenschaft46). Nutzen bedeutet Anwendbarkeit. Es kann nicht der Sinn der Beschäfti­gung mit Vergangenem sein, sich auf seine Tatsächlichkeit zu beschrän­ken, aus der weder Zusammenhänge noch ein Auswahlprinzip erschlossen werden können. Die Kenntnis des Vergangenen soll vielmehr dem Ver­ständnis des Gegenwärtigen als eines Gewordenen dienen, das Verständ­nis der Gegenwart aber der Situation der in ihr Lebenden. Das bedeutet weder das Zurechtbiegen des Vergangenen nach den Bedürfnissen der Gegenwart noch die Befreiung des einzelnen von der Pflicht der Entschei­dung, aber doch einen Einfluß auf die Orientiertheit der eigenen Existenz in der Welt. Es ist diese die Praxis miteinbeziehende Reflexion auf das Ganze, die von den Verfechtern der Werturteile immer, und was die Geschichtswissenschaft betrifft m. E. mit Recht, ins Treffen geführt wird, sofern sie nicht die unkritische Aufhebung der unleugbaren Differenz von Theorie und Praxis zur Folge hat47). Der Wissenschaftsbegriff, der hinter der Forderung nach Wertfreiheit steht, ist von den Naturwissenschaften und ihrem Tatsachenbegriff ent­lehnt und nur dort sinnvoll, wo gesetzmäßige Vorgänge untersucht wer­den. Die Sachverhalte, um die es in den Geisteswissenschaften — und der Geschichte im besonderen — geht, unterliegen aber einer anderen Kausa­lität48), die auch eine andere Art von Stellungnahme verlangt, die umso 44) Vgl. dazu die von Schaff Geschichte und Wahrheit 220 zitierten Äußerungen von William H. Drays Philosophy of History (Prentice Hall, Englewood Cliffs 1964) 25. 45) Gegen eine Überbewertung des Faktischen wendet sich auch Theodor Schieder Geschichte als Wissenschaft (München—Wien 21968) 38 und 41. 4«) Peter H e i n t e 1 Gedanken zur Methode und zum Nutzen historischer Wissenschaften in Festschrift für Otto Höfler 1 (Wien 1968) 221—239. 47) Vgl. zu diesem Problem die Ausführungen von Dietrich Benner Zur Fragestellung einer Wissenschaftstheorie der Historie in Wiener Jahrb. für Philosophie 2 (1969) 67 ff. 48) Kant spricht hier von einer Kausalität aus Freiheit; vgl. P. Heintel Gedanken 227. 33*

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