Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 24. (1971)
HERSCHE, Peter: Erzbischof Migazzi und die Anfänge der jansenitischen Bewegung in Wien
306 Peter Hersche trugen wesentlich dazu bei, den österreichischen Reformkatholizismus, eine Komponente dessen, was später nicht gerade glücklich als „Josephinismus“ bezeichnet wurde, zu begründen. Dieser Reformkatholizismus verstand sich selbst als aufgeklärter und bekämpfte die Barockkirche insofern, als er sie als eine Abweichung von einem früheren Ideal, nämlich dem urkirchlichen, betrachtete, das es nun wiederherzustellen galt. Die theologischen Waffen dazu lieferten ihm in erster Linie der Jansenismus U2), der seinerseits wiederum andere Anregungen in dieser Richtung, etwa die Ergebnisse der kritischen Kirchengeschichte und antikuriale kirchenrechtliche Theorien, in sich auf genommen hatte; hinzu traten die Ideen Muratoris und der Rückgriff auf den Reformgeist des Tridentinums. Mehr oder minder ausgeprägt lassen sich diese reformkatholischen Elemente bei vielen österreichischen Bischöfen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nachweisen, doch ist es bisweilen schwierig, sie scharf voneinander zu trennen. In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich jedoch Migazzi von seinen Mitstreitern, nämlich in seiner Stellung als Bischof der Haupt- und Residenzstadt, die ihn in seiner Wirksamkeit über die seiner Amtskollegen hinaushob. Sie brachte ihn nämlich in engen Kontakt mit dem Hofe und den Staatsstellen, namentlich durch verschiedene wichtige Ämter, etwa in Studien- und Zensursachen, die ihm, wie schon seinem Vorgänger Trautson, zufielen. Bei diesem engen Zusammenwirken des höchsten Repräsentanten der Kirche in Wien mit den staatlichen Stellen, einer Zusammenarbeit, die für die ersten Jahre Migazzis in Wien charakteristisch ist und bis zum Erscheinen des Febronius und Kollars reibungslos funktionierte, war es für den Erzbischof naheliegend, für die Durchsetzung und Verbreitung seines ursprünglich rein kirchlichen Reformprogramms die Hilfe des Staates anzurufen, der sie, parallele Reformen verfolgend, denn auch bereitwilligst gewährte, wie etwa das Hofdekret vom 10. September 1759 zeigt113). Damit fällt auch neues Licht auf die Entstehung des umstrittenen „Josephinismus“. Daß das namentlich von Winter hervorgehobene refor- merische Anliegen des „Josephinismus“ innerkirchliche Ursachen hatte, scheint selbstverständlich. Aber auch was die andere Seite des „Josephinismus“, nämlich die Ausformung eines rigorosen staatskirchlichen Systems, i12) Es ist sicher kein Zufall, daß der Jansenismus gerade in Frankreich, jenem Lande, das dem Eindringen des barocken Geistes immer Widerstand entgegensetzte, seine größte Blüte erlebte. ns) in diesem Zusammenhang ist die Feststellung interessant, daß man bei früheren Plänen, in Zusammenarbeit von Staat und Kirche eine Reform der letzteren durchzuführen, staatlicherseits daran dachte, Migazzis Vorbild und Mentor, nämlich Bischof Thun von Gurk, der schon in den vierziger Jahren Reformen im Sinne des aufgeklärten Reformkatholizismus eingcleitet hatte, als Berater heranzuziehen. Vgl. Rudolf Reinhardt Zur Kirchenreform in Oesterreich unter Maria Theresia in Zeitschrift für Kirchengeschichte 77 (1966) 105—120.