Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 19. (1966)
WEINZIERL-FISCHER, Erika: Die Bedeutung des Zeitungsarchivs Borgs-Maciejewski für die zeitgeschichtliche Forschung
Rezensionen 581 folgt diese bis in die Vielfalt der quellenmäßig erfaßbaren mittelalterlichen Lebensgewohnheiten. Dabei ergibt sich freilich, daß unter diesem Aspekt die ständische Verschiedenartigkeit viel geringer ist, als man nach den Lehren der Verfassungsgeschichte annehmen möchte. Quantitativ meist überschätzte Erscheinungen (wie: bäuerliche Notlage, ritterliche Hofkultur, Entfaltung des Städtewesens) werden auf die ihnen zustehende Position im Rahmen des Gesamtbildes reduziert. Die Ergebnisse beruhen auf einer ansehnlichen (für den systematischen Forscher in Vielem wohl noch ergänzungsbedürftigen) Literatur, die jedoch umso anspruchsloser wird, je weiter man sich von der Verfassung und Wirtschaft im engeren Sinne wegbewegt und den eigentlichen, spezifisch mittelalterlichen Verhaltensweisen und Umgangsformen des „Menschen“ nähert. Hier steht dem Autor außer relativ wenigen Rechtsquellen nur die zeitgenössische Literatur zur Verfügung; daß die in vielen Belangen unmittelbareren und gerade für das Thema eine Vielfalt von Details vermittelnden bildenden Künste nur in sehr bescheidenem Ausmaß verwertet wurden, liegt wohl am Mangel entsprechender Vorarbeiten. Die erwähnte Einteilung des Werkes erleichtert zwar dem Leser die Übersicht, hat jedoch zur Folge, daß aus der Verfassungsgeschichte bekannte Faktoren auf Kosten der enger zum Thema gehörigen Kapitel wiederholt werden müssen. Stark zu kurz gekommen erscheint der Abschnitt über die Geistlichkeit, besonders im Hinblick auf die einschneidende Bedeutung der Reformorden und -klerikergemeinschaften für die geistige Orientierung und auch die Lebensformen aller Stände. Die Eigenart der Fürstenhöfe im Spätmittelalter, die Ausbildung der Hofämter (in der doch gerade ein Modellfall für die Wechselwirkung zwischen Verfassungsentwicklung und Hofleben zu erkennen ist) werden kaum in Betracht gezogen. Wenig Beachtung schenkt der Autor den Kultureinflüssen und -ausstrahlungen (im Verhältnis zu den romanischen und slawischen Völkern, aber auch zur Welt des Islam), wofür in einigen Kapiteln F.-L. Ganshof, Le Moyen Äge (Histoire des relations internationales 1, Paris 1953) als Vorbild hätte dienen können. Gerade eine derartige Fragestellung hätte, da sie von aktuellem Interesse ist, auch ein breiteres Publikum angesprochen. Andererseits werden Gegenstände, die nur am Rande zum Thema gehören, erwähnt und aus begreiflichen Gründen so sehr vereinfacht, daß dem Laien unmöglich daraus ein Nutzen entstehen kann (z. B. Charakterisierung der Könige S. 158, Entstehung der ottoni- schen Reichskirche S. 163, Fälschungen S. 169 etc.). Diese Einwände sind jedoch unerheblich im Vergleich zu der Tatsache, daß es dem Autor gelungen ist, auf relativ geringem Raum einen lebendigen und breite Kreise ansprechenden Überblick über die Lebensform des mittelalterlichen Menschen im deutschen Sprachraum zu bieten. Darüber hinaus dürften viele den zeitgemäßen Interessen entsprechende Fragestellungen geeignet sein, der Forschung wertvolle Anregungen zu verleihen. Gerhard Rill (Wien).