Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 19. (1966)

WEINZIERL-FISCHER, Erika: Die Bedeutung des Zeitungsarchivs Borgs-Maciejewski für die zeitgeschichtliche Forschung

Rezensionen 577 solchen Prozesses für manche Glaubensgruppen als Symptome einer Glaubenszerstörung erscheinen mögen. Das Spezifische dieser Krisenzeit des europäischen Christentums, die aus den Erfahrungen des Mittelalters resultierende Bereitschaft zur Konfrontation, zur Polemik, aber auch zur vorbehaltslosen Einbeziehung in die diesseitigen Probleme des Abend­landes, hat dazu geführt, daß man zu Gunsten des bestimmt viel reiz­volleren theologischen, philosophischen und staatlich-politischen Gesche­hens den Unterbau meist übersehen hat, nämlich die religiöse Umformung einer aufnahmebereiten, zugleich aber sehr träge reagierenden Bevölke­rung, ohne die sich eine Konfession doch weder ausbilden noch verfestigen konnte. Diesem Prozeß gilt die vorliegende, aus einem Aufsatz in der Histori­schen Zeitschrift erwachsene Untersuchung. Aus der Glaubensspaltung entstehen die Konfessionen, unter Konfessionsbildung wäre zu verstehen „die geistige und organisatorische Verfestigung der seit der Glaubens­spaltung auseinanderstrebenden christlichen Bekenntnisse zu einem halb­wegs stabilen Kirchentum nach Dogma, Verfassung und religiös-sittlicher Lebensform.“ Allerdings werden diese Vorgänge fast nur innerhalb des deutschen Sprachraumes verfolgt. Osteuropa wird im 10. Kapitel über­sichtsweise behandelt; Frankreich, dessen Situation doch gerade durch eine sehr militante Konfessionsbildung und ein ganz spezifisches Verhält­nis zwischen Staat und Konfession bestimmt wird, bleibt fast gänzlich außerhalb der Betrachtungen. Daß die Unitarier nur am Rande erwähnt werden, mag durch ihre geringe Anzahl begründet erscheinen, doch hat man in letzter Zeit immer mehr auf ihre das Kräfteverhältnis sprengende Bedeutung im Rahmen der europäischen Glaubensgemeinschaften hin­gewiesen. Ähnliches gilt für die Niederlande, die aus einem radikalen Konfessionalismus zuerst ein Toleranzbestreben, das nach außen hin scheiterte, und dann den Neustoizismus, der sich über ganz Europa ver­breitete und seinerseits auf die Konfessionen einwirkte, hervorbrachten. Innerhalb der gezogenen Grenzen aber bietet der Autor ein auf profunden Kenntnissen beruhendes, durch eine Fülle interessanter und oft äußerst seltsamer Details lebendig gestaltetes Bild. Von den Gründungstagen der lutherischen Lehre an werden die drei großen Konfessionen, Katholiken, Lutheraner und Calvinisten, in ihrem Einwirken auf die Bevölkerung, ihrem gegenseitigen Verhältnis, ihrer Durchdringung bis zur Glaubens­verwirrung und Bikonfessionalität, ihrem Verhältnis zur weltlichen Ob­rigkeit, zu Tradition und Brauchtum verfolgt. Schließlich gelangt man zu jener Phase, in der sich, ungeachtet vereinzelter weiterdrängender Elemente, die Konfessionen zu stabilisieren und voneinander im stren­geren Sinne abzusondern begannen. In allen diesen Fragen werden die theologischen Standpunkte nur am Rande berührt, zum Teil auch als bekannt vorausgesetzt, und das Augenmerk vielmehr auf jene Gescheh­nisse gerichtet, die das Vermögen oder Unvermögen der breiten Bevölke­rung, mit den auf höherer Ebene begründeten konfessionellen Programmen Schritt zu halten, charakterisieren. Die Unmittelbarkeit und Vielfalt der ausgewerteten Quellen, die in ihnen erkennbare merkwürdige Mischung von Naivität, Intoleranz, Traditionsgebundenheit und revolutionär-sozia­Mitteilungen, Band 19 37

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