Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 16. (1963)
SUTTER, Berthold: Erzherzog Johanns Kritik an Österreich
170 Berthold Sutter sie reicht vom Wiener Kongreß, dessen Festen der Erzherzog, so weit es ihm nur möglich war, entfloh, bis zum Tode Kaiser Franz I., ist zwar ebenfalls von ständiger berechtigter Sorge und von begründeten Klagen über die Untätigkeit Wiens erfüllt, sie ist aber, besonders nach 1817, wesentlich gemäßigter. Noch herrscht keineswegs jene fast verzweifelte Stimmung vor, die nach 1835, im dritten Zeitabschnitt, einsetzt und sich in den beiden letzten Jahren vor der Revolution von 1848/49 immer mehr in der Erkenntnis steigert, es könnte eines Tages für echte Reformen zu spät geworden sein. Nach der Enttäuschung der Reichsverweserschaft wird die eigentliche Kritik selten, obwohl es an warnenden Urteilen und nicht gerade günstigen Charakteristiken auch jetzt nicht fehlt, doch tritt dafür in diesem letzten Jahrzehnt des vergrämten, nach seinem eigenen Urteil oft „grantigen“, enttäuschten, sehr einsam und früh „harthörig“ gewordenen Erzherzogs die Sorge um die gesamte europäische Entwicklung und ein allgemeiner Alterspessimismus hervor, der den Sinn der Geschichte nachdenklich wägt und um die Vergänglichkeit aller Reiche und Mächte, aller Dinge weiß l2). Die schwersten Angriffe hat Erzherzog Johann — wie so manch anderer Beobachter der Zeitverhältnisse —■ gegen die Unentschlossenheit der Wiener Hof- und zentralen Verwaltungsstellen gerichtet, da diese durch ihren schwerfälligen Apparat und durch ihre Untätigkeit die Entwicklung in allen Ländern des Kaisertums von oben her lähmten. So schrieb er 1810 in sein Tagebuch: ,,Das Ganze lässt sich in wenig Worte fassen: Misstrauen in die Massregeln der Regierung, Unzufriedenheit und Klagen über alle Zweige, Zerstreuungssucht, Verfall der Moralität, Armut auf einer Seite, auf der anderen Gefühllosigkeit, Leichtsinn, Betäubung und Schlaf, Unordnung, Selbsucht, Ränke etc. und wie alles das heißt bey jenen, die an der Leitung des Ganzen Anteil nehmen. Täglich neue Systeme, Venoirrungen nach allen Seiten, Langsamkeit, in allem Stockung, keine großen Maßregeln, ein Geist der Kleinfügigkeit, der täglich zunimmt.“ Nur wenige Wochen später, am 23. November 1810, hielt der Erzherzog das Resultat eines Gespräches mit Friedrich Gentz in seinem Tagebuch fest: „Die Monarchie ist am Rande des Verderbens, ihrer Auflösung, zuvor hatte er vermerkt: „Feste, Zerstreuungen, die Geld kosten werden gegeben, izt wo alles seufzet, wo schwer die Lasten drücken in solchen Ländern, die der Feind am meisten hernahm, und geholfen wird nicht.“ — „Der Unter- than verlieret seine letzte Hoffnung, da er sieht, daß sein Herr alles weiß und doch nicht hilft.“ 12) Siehe Anhang 1—4. — Vgl. dazu auch Erzherzog Johann: Briefe an Karl Schmutz. Hrsg. v. F. 11 w o f. Mitt. Histor. Verein Stmk. 41, 1893, S. 27—116; hier Nr. 42, Brief vom 23. Jänner 1859.