Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 10. (1957)

WEINZIERL-FISCHER, Erika: Bismarcks Haltung zum Vatikanum und der Beginn des Kulturkampfes nach den österreichischen diplomatischen Berichten aus Berlin 1869–1871

306 Erika Weinzierl-Fischer der „Süddeutschen Presse“ veröffentlicht. Sie erregten die Gemüter der liberalen Zeitgenossen auf das äußerste. Die Canones besagten, daß die katholische Kirche die für alle zum Heile notwendige einzige wahre christliche Kirche ist. Sie ist unabhängig von jeder anderen Macht, auch von der des Staates. Sie besitzt Gewalt der Gesetzgebung und der Strafe. Sie ist unfehlbar. Ihre Unfehlbarkeit gilt nicht nur für die geoffenbarten Wahrheiten, sondern auch für jene, die zur Bewahrung der geoffen­barten notwendig sind. Der österreichisch-ungarische Reichskanzler Beust hielt die Kodifizie- rung dieser Lehren für einen massiven Angriff auf den Staat und prote­stierte gegen sie als erster Staatsmann in Rom. Am 10. Februar beauf­tragte er den österreichischen Botschafter Graf Trauttmansdorff, der Kurie mitzuteilen, daß seine Regierung in einigen Canones eine Lähmung der bürgerlichen Gesetzgebung sehe. Sie drohten die Achtung zu zerstö­ren, die jeder Bürger vor den Gesetzen seines Landes haben müsse. Daher wäre die Regierung gezwungen, die Publikation aller Beschlüsse, die die Majestät des Gesetzes verletzten, zu verbieten23). Der österreichi­sche Gesandte in Berlin sollte Graf Bismarck vom Inhalt dieser Depesche in Kenntnis setzen und dabei vor allem die innenpolitischen Schwierig­keiten der Monarchie anführen, die Beust zu seinem Schritt bewogen hätten 24). Wimpffen kam diesem Auftrag am Abend des 19. Februar nach. Nach seinem Bericht25) folgte Bismarck seinen Ausführungen mit dem lebhaf­testen Interesse und bat ihn wiederholt, Beust seinen wärmsten Dank zu übermitteln. Weiters solle Wimpffen melden, daß er die Ansichten Beusts vollkommen teile und daher über dessen Schritt bei der Kurie sehr be­friedigt sei. Er zeigte „eine gewisse persönliche Geneigtheit, sich der­artigen Mahnungen der katholischen Mächte anzuschließen“, und ver­sicherte, daß ihn davon nur die Befürchtung abhalte, ein ähnlicher 23) Ebendort S. 690, Schmidt S. 329 und Alois Hudal, Die österreichische Vatikanbotschaft 1806—1918, München 1952, S. 206. 24) Weisung vom 17. Februar 1870, P.A. III, Kart. 102, Correspondenzen a.a.O. Nr. 4, 1870, S. 102, Granderath a.a.O. II, S. 691 und Schmidt a.a.O. S. 330, — „Die Thatsache, daß unmittelbar vor dem Concil die confessionellen Fragen einen so großen Platz in der öffentlichen Discussion eingenommen, die Gemüther so mächtig aufgeregt haben und mit dem Übergange der Monarchie zu parlamen­tarischen Regierungsformen in so engem Zusammenhänge gestanden sind, diese Thatsache übt bei uns auf die moralische Situation der Regierung einen Ein­fluß . . .“ 25) 20. Februar 1870, P.A. III, Kart. 101. Nr. 18 A—B. Correspondenzen a.a.O. 4, 1870, S. 102 ff., Heinrich Poschinger, Fürst Bismarck und die Diplo­maten, Hamburg 1900, S. 285 f., Granderath, a.a.O. II, S. 694, und Windell, a.a.O. S. 223. — Diese Unterredung Wimpffens mit Bismarck hatte dessen Verständi­gungstelegramm an Graf Arnim in Rom vom 19. Februar und den Runderlaß an die Gesandtschaften bei den Großmächten, in München, Florenz, Brüssel, Dresden und Rom vom 21. Februar zur Folge. G.W. VI b, Nr. 1510 und 1513.

Next

/
Thumbnails
Contents