Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 10. (1957)
WEINZIERL-FISCHER, Erika: Bismarcks Haltung zum Vatikanum und der Beginn des Kulturkampfes nach den österreichischen diplomatischen Berichten aus Berlin 1869–1871
Bismarcks Haltung zum Vatikanum und der Beginn des Kulturkampfes 305 Die latente Kulturkampfstimmung in der preußischen Öffentlichkeit war also schon zu diesem Zeitpunkt für einen Außenstehenden deutlich spürbar. Daß sie nicht zum Ausbruch kam, lag nur an der Regierung, die — entgegen den Erwartungen Münchs — politischen Gründen den Vorrang gab16). Als Bismarck zwei Jahre später aus ebenfalls politischen Gründen den Kulturkampf zu führen begann, war unter dessen Opfern auch bald Mühler, der wegen seines Widerstandes gegen die beabsichtigte weitere kirchenfeindliche Gesetzgebung 1872 entlassen wurde. Im Jänner 1870 dagegen konnten selbst beunruhigende Nachrichten aus Rom, die Bismarcks Besorgnisse, die er gegenüber Graf Wimpffen geäußert hatte, „vollkommen“ bestätigten, die preußische Regierung nicht aus ihrer Reserve locken17), obwohl Wimpffen den Äußerungen Bismarcks entnehmen zu können glaubte, daß man diesen zu einer politischen Teilnahme an der Konzilsfrage habe bewegen wollen18). Bismarck ziehe es aber vor, seine bisherige Politik nicht aufzugeben. Im übrigen halte er die Einberufung des Konzils für eine „wenig weise“ Handlung der Kurie 19). Nach der „glänzenden“ Rede Bischof Stroßmayers am 24. Jänner vor dem Konzil20) erwartete Bismarck, daß die Stärke der Opposition gegen die Unfehlbarkeitslehre die Entschließungen der Kurie wenigstens mildern werde. Daß der Papst die Adresse der Minorität nicht angenommen hatte und gegen Döllinger mit Kirchenstrafen Vorgehen wolle, fand man in Berlin allerdings beunruhigend21). Anfang Februar 1870 wurden — angeblich durch die Indiskretion des Sekretärs von Bischof Stroßmayer22) — das den Konzilvätern am 21. Jänner bekanntgegebene Schema De ecclesia und die zu diesem gehörenden 21 Canones in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ und in is) Vgl, Schmidt a.a.O. S. 324. 17) Staatssekretär Thile hatte Wimpffen mitgeteilt, daß man von der Defi- nierung der Unfehlbarkeitsfrage im Sinne der numerischen Majorität nichts für die Regierung befürchte, die gegen eventuelle Konzilsbeschlüsse die gesetzlichen Mittel in der Hand habe, wohl aber für die Katholiken selbst, unter denen die größte Beunruhigung herrschen solle. 29. Jänner 1870'. P.A. III, Kart. 101, Nr. 9 D. 18) Dieser Versuch dürfte wohl vom Gesandten des Norddeutschen Bundes in Rom, Graf Harry Arnim, ausgegangen sein, der mehrmals in dieser Richtung tätig war. Vgl. Granderath a.a.O. I, S. 368, Schmidt a.a.O. S. 283 und besonders S. 340 f. sowie Franciscus Hanus, Die preußische Vatikangesandtschaft 1747— 1920, München 1954, S. 302. — Bismarck hat Graf Arnim am 5. Jänner 1870 die Gründe für seine reservierte Haltung ausführlich dargelegt. Bismarck, Die gesammelten Werke (~ G.W.) VI b, S. 198 ff., jetzt auch bei Hans Rothfels, Bismai’ck und der Staat, Stuttgart 1953, S. 229 ff. 19) 3. Jänner 1870. Privatbrief Wimpffens an Beust, P.A. III, Kart. 102. 20) Granderath a.a.O. II, S. 282, G.W. VI b, S. 251, und Schmidt a.a.O. S. 305. 21) 12. Februar 1870, P.A. III, Kart. 101, Nr. 14 C. 22) Granderath a.a.O. II, S. 688 ff. Mitteilungen, Band 10 20