Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 10. (1957)
WEINZIERL-FISCHER, Erika: Bismarcks Haltung zum Vatikanum und der Beginn des Kulturkampfes nach den österreichischen diplomatischen Berichten aus Berlin 1869–1871
304 Erika Weinzierl-Fischer Sellinghausenu), der während der Abwesenheit Graf Wimpffens die Gesandtschaftsgeschäfte führte. Die öffentliche Meinung beschäftige sich immer mehr mit dem bevorstehenden Konzil, wobei die der preußischen Regierung nahestehenden Blätter seit neuestem der Politik der bayrischen Regierung zustimmten und besonders dem Fürsten Hohenlohe auffälliges Lob spendeten. Nach der Ansicht Münchs stimmte diese Haltung völlig mit der der Regierung zugeschriebenen Absicht überein, Hohenlohe die Initiative zu überlassen, ihn vielleicht auch zu ermutigen, selbst aber die größte Zurückhaltung zu beobachten und nicht entschieden Farbe zu bekennen. Die Absicht des hohen deutschen Klerus, bei einer Konferenz in Fulda 11 12) eine Verständigung über die Konzilsfragen zu erzielen, werde dagegen von der Regierung sehr gefördert, da es für sie leichter sei, dort ihre Meinung geltend zu machen, als auf dem Konzil selbst. Münch ist überzeugt, daß dies sehr entschieden der Fall sein werde, da die protestantische Richtung, die vom derzeitigen Regierungssystem getragen werde, schon zu offen gegen mögliche, „den konfessionellen Frieden bedrohende Beschlüsse des Konzils Front gemacht“ habe, „als daß es wahrscheinlich ist, daß die preußische Regierung aus politischen Gründen einen Weg verfolgen sollte, der dieser Anschauungsweise widerspricht“ 13). Einen Monat später muß Baron Münch jedoch feststellen, daß die Regierung offensichtlich nicht gesonnen sei, „von der rein zuwartenden Haltung gegenüber dem Konzil abzugehen“, obwohl die Protestanten sie gerade jetzt stürmisch zu einer feindlichen Stellungnahme gegen das Konzil aufforderten. Die Errichtung eines „Dominikanerklosters“ in der Berliner Arbeitervorstadt Moabit14) habe die protestantische Meinung, daß der Kultusminister Mühler die Katholiken bevorzuge, bestärkt. Münch ist überzeugt, daß die Mühler feindliche Partei den Anlaß benützen werde, ihn auf dem katholischen Feld zu bekämpfen, um ihn, wenn möglich, zu stürzen. Aus diesem Grund werde die Agitation gegen das Konzil auch weiter andauern15 *). 11) Reichsfreiherr Joachim von Münch-Bellinghausen (geh. 1833) war 1868—1874 an der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft (ab 1871 Botschaft) in Berlin tätig. 1877 ist er als ö.-u. Gesandter in Athen an Typhus gestorben. Administrative Registratur F 4, Karton 229. 12) Über die im September 1869 in Fulda abgehaltene Konferenz vgl. Granderath, a.a.O. I, S. 232 ff., und Windeil, a.a.O., S. 216 f. is) 17. Juli 1869. P.A. III, Kart. 100, Nr. 54 B. 14) In Wirklichkeit handelte es sich um ein von vier Franziskanern übernommenes katholisches Knabenwaisenhaus, an dessen Kapelle zwei Dominikaner als Seelsorger wirkten. Vgl. dazu Johannes B. Kißling, Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche, 1, Freiburg i. Br. 1911, S. 329 ff. und 348 f. 15) 28. VIII. 1869. P.A. III, Kart. 100, Nr. 72 C. — Über das Schicksal Mühlers vgl. Walter Reichle, Zwischen Staat und Kirche. Das Leben und Wirken des preußischen Kultusministers von Mühler, Berlin 1938.