Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 9. (1956)

WAGNER, Hans: Die Briefsammlung Gauchez

Rezensionen 595 hat. Die Ergebnisse liegen in mehreren umfangreichen Publikationen vor. Nicht erforscht wurde jedoch bisher das russisch-österreichisch-ungarische Verhältnis in der Zeit unmittelbar vorher, bzw., wie weit die beiden Außen­minister die Politik von 1908 seit ihrem Amtsantritt vorbereitet haben. Diese Lücke in der Forschung wird nun durch die vorliegende Arbeit des schwedischen Archivars Carlgren ausgefüllt. Sie beruht vor allem auf österreichischen Archivquellen aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Aber auch aus privaten Archiven in Österreich wurde das wesentlichste Material herangezogen, mit einer Ausnahme, wo gelehrte Eifersucht eine Einsichtnahme verhinderte. Darüber hinaus wurde — mit wenigen Aus­nahmen — die wichtigste Literatur zum Thema benützt, vor allem auch die z. T. fast unbekannten gedruckten russischen Quellen. C. gibt einleitend einen Überblick über die russische und österreichisch­ungarische Balkanpolitik seit dem Abschluß der Entente der beiden Mächte von 1897, wobei er besonders die Hauptanliegen, die Meerengen- und Annexionsfrage, behandelt. Er stellt fest, daß für Lamsdorff und Golu- chowski das Nichtinterventionsprinzip maßgebend war, das auch die Politik von Mürzsteg bestimmte. Mit dem Amtsantritt Iswolskys und Aehrenthals 1906 beginnt eine neue Epoche. C. weist überzeugend und wiederholt nach, daß die später in Iswolskys Memoiren vorgegebene Konzeption gegen eine deutsche Hegemonie nicht seiner tatsächlichen Politik entspricht, sondern daß der neue russische Außenminister nach der Niederlage gegen Japan zur traditionellen Balkan­politik zurückzukehren entschlossen war. Ebenso trat in Österreich-Ungarn mit Aehrenthal, von dem C. S. 99 ff. eine glänzende Charakteristik gibt, ein Mann mit offensiven Zielen an die Spitze der Außenpolitik. Die erste Initiative ging von Iswolsky, der auch früher ernannt wurde, aus. Er strebte zunächst eine Annäherung an England durch Nachgiebig­keit in den asiatischen Streitfragen an und hoffte auf ein Entgegen­kommen in der Meerengenfrage. Als erstes Ergebnis dieser Politik konnte Rußland einige Anfangserfolge in der Frage der mazedonischen Reformen verzeichnen. Hier macht sich der Umstand bemerkbar, daß der Verf. nicht die Möglichkeit besaß, auch russische Archive zu benutzen. Es ist ihm nicht möglich, allen Motiven der russischen Politik nachzuspüren, er muß sich auf z. T. sehr vorsichtige Vei'mutungen beschränken. Mit dem Aufrollen der Sandschakbahnfrage geht Aehrenthal im Januar 1908 zur diplomatischen Gegenoffensive über, deren letztes Ziel die öster­reichisch-ungarische Kontrolle über das ganze Eisenbahnnetz der west­lichen Balkanhalbinsel ist. Obgleich die österreichisch-ungarischen (wie auch die russischen) Eisenbahnprojekte ergebnislos bleiben sollten, war durch das Vorgehen der Donaumonarchie die Entente mit Rußland, die Zu­sammenarbeit am Balkan schwer erschüttert, zumal die Russen nicht ganz zu Unrecht den Vorstoß Aehrenthals für das schließliche Scheitern der mazedonischen Justizreform verantwortlich machten. Immerhin schien im Sommer 1908, als Iswolsky mit seinem berühmten Verhandlungsangebot an Österreich-Ungarn herantrat, das Verhältnis wie­der gebessert. Durch den in Kürze erfolgten Ausbruch der jungtürkischen 38*

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