Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 9. (1956)

WALTER, Friedrich: Metternich und Gervay. Ein Briefwechsel

218 Friedrich Walter administrirt. Der Geist der Zeit hat die Dinge in Bewegung gesezt und sie stehen wie ein schlecht eingepacktes Porcellan-Service, welches auf einer steinigen Strasse von ungeschickten Fuhrleuten geführt wird und in Scherben ankommen muss. Die Res publica in Ungarn leidet mehr durch das, was nicht ist, als durch das, was ist. Helfen können sich nichtregierte Länder nur selbst auf dem grossen Um­wege einer Revolution, und Ungarn befände sich bereits in einer Revo­lution, wenn nicht zwey Umstände gegen deren Ausbruch wirkten: das Bestehen der privilegirten Classe und jenes der mit keinen Rechten begabten Volksmenge! Bestünde mitte inne ein tiers état, so wäre bereits seit lange die crasse Revolution ausgebrochen. Die Anarchie besteht auf dem Felde der Regierung, weil seit Jahrzehnten dieses Feld weder zu Ofen noch zu Wien bestellt wurde. Man hat an beiden Orten fortgelebt, als wenn das Leben nur aus dem Athmen bestünde. Vor gedacht, vorbereitet, ge­handelt in einer gegebenen Richtung, vorgesehen wurde Nichts; die zur Führung der Geschäfte berufene Behörde — die Kanzley 2) — hat ohne Rücksicht auf den Stand der Dinge auf die eben bezeichnete Weise vegetirt und nur dafür Sorge getragen, dass die äussere Form nicht geradezu verlezt werde. Die Statthalterey hatte ihrer Seits nur eine Sorge — die, der aui'a popularis zu huldigen. S o gehen die Reiche zu Grunde. Seit Jahren habe ich die Rolle der Cassandra übernommen, mich beinebst aber nicht auf dieselbe beschränkt. Ich habe mich bewegt, mich in Detailfragen geworfen, in denen mir positive Kenntnisse nur zu sehr abgehen; am Ende ist die Wahrheit in der Lage dennoch in die Gemüther gedrungen, und wir stehen sonach in dem ersten Stadium einer Übergangsperiode. Diese Periode muss durchlaufen werden, denn sie lässt sich keinen Stillstand noch Rückgang gebieten. Alles kömmt sonach auf’s Vorgehen an. Dort, wo die Elemente hierzu in Evidenz stehen, muss sie die Regierung benützen; dort, wo sie nicht bestehen, müssen sie gesammelt werden. Wer kann diese Elemente bieten? Allein die Kanzley2) und die ung. Regierungswerkzeuge. Wer muss sie ordnen und den Gang der Verhandlungen leiten? Die deutschen Elemente können dieses allein, denn es ist — wie ich es längst ausgesprochen habe — der Kaiser, welcher dem Könige zu Hilfe kommen und ihn vom Untergange retten muss. Die Aufgabe ist eine höchst schwere, sie ist aber eine unerlässliche! Sie liegt nicht im freien Willen der Menschen, sondern in der Gewalt der Dinge. Dass sich die Bedürfnisse einst so stellen würden, diess habe ich längst vorgesehen und tauben Ohren vorgepredigt. Heute erschrecke ich mich nicht, denn ich habe keine Entdeckung zu machen. 2) Sc. ungarische Hofkanzlei.

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