Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 9. (1956)
WALTER, Friedrich: Metternich und Gervay. Ein Briefwechsel
Metternich und Gervay 191 Bewegung, wo immer sie auch ihr Haupt erhob, überlegen glauben und hoffen, ihr durch bescheidene Reformen den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Er kannte ja genau die wunden Stellen am Körper der Monarchie, wußte um die schweren Gefahren, die ihre Zukunft um- düsterten, er hatte auch oft genug die rechten Mittel an der Hand, dem Unheil zu steuern, nur — und hier liegt seine unabdingbare tragische Schuld — zur Tat reichte die Kraft nicht mehr. Souverän überschaut der Kanzler die beiderseitigen Stellungen in dem nie ruhenden Kampf zwischen Regierung und Opposition in Ungarn, immer wieder stellt er vor, daß dieses Land, wenn überhaupt, bloß „administriert“, aber keineswegs „regiert“ werde, — und kommt doch über die (zweifellos richtige) Diagnose nicht hinaus. Da spricht er etwa im Sommer 1843 in Ischl mit vielen Ungarn und hört von allen den einen Wunsch, „dass die Regierung auftreten möge“ 17), und weiß diesen „Wohlgesinnten“ bloß Geduld zu predigen, obwohl ihm klar ist, daß, „wenn am Tage der Schlacht ein Heer mit den Gewehren im Bündel sich auf die Geduld beschränkt, für den Feind wahrlich nicht viel Kraftäusserung aufzubieten gehört, um den Sieg davon zu tragen“ 18). Und als Graf Stephan Széchényi ihm einen Plan für die Einführung einer Grundsteuer in Ungarn — vielleicht das Kernproblem aller Reformbemühungen im Lande jenseits der Leitha — vorlegen will, winkt der darüber wenig glückliche Staatskanzler ab: „die Zeit der Reife sei noch nicht gekommen“, und bittet Gervay dringend, den Grafen „zu etwas Geduld zu stimmen“ ! Der Fürst gebraucht gern starke Worte, aber es fehlt ihm der Mut zu jenem „festen Gehen“, das er für notwendig hält19), — und das, obwohl eine kraftvolle Ungarnpolitik weder bei Erzherzog Ludwig noch auch bei Kolowrat auf Widerstand gestoßen wäre. Schwieriger lagen die Dinge in Böhmen, wo Kolowrat — ob aus par- tikularistiseher Vorliebe oder politischer Kurzsichtigkeit, bleibt unklar — die aufstrebende nationale Bewegung durch die immer wieder vorgetragene Behauptung ihrer Bedeutungslosigkeit gegen etwaige Regierungsmaßnahmen geschickt abzuschirmen verstand. Wie in Ungarn sieht Metternich auch hier die zentrifugalen Kräfte wachsen, sieht er höchste Gefahr, weil, „wo kein Centrum ist, alles in der Peripherie in Stücke zerfallen muss“ 20). Aber auch in den böhmischen Angelegenheiten vermag der Fürst seine Tatenscheu nicht zu überwinden. Er ist gegen die Bestellung des jungen, unerfahrenen Erzherzogs Stephan zum Landeschef in Böhmen, weil ihm seine erprobte Menschenkenntnis sagt, daß aus diesem „Vielredner und Vielthuer“ kein Staatsmann werden 17) LXI. iS) Ebendort. 19) Ebendort. 20) LVIII.