Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 9. (1956)

WALTER, Friedrich: Metternich und Gervay. Ein Briefwechsel

190 Friedrich Walter „bietet heute den äußeren Schein eines diplomatischen Congresses. Der französische Botschafter ist zugleich mit mir hier angekommen, in den letzten zwey Tagen sind der russische Gesandte, der englische Bot­schafter und gestern abend der Nuntius eingetroffen, alle mit Aufträgen in den verschiedensten Geschäftsrichtungen. Das ganz Eigenthümliche in denselben ist, dass alle dahin gehen, von mir Rath zu erhalten, wie die Aufgaben, welche aller Orten durch Fehler der Höfe zu beinahe unlösbaren geworden sind, zum guten Ziele zu führen seyen!“ Er trug die unerschütterliche Überzeugung in sich, „seine Stellung sei sicher die eigenthümlichste, welche die Geschichte aller Zeiten aufzuweisen habe; man wisse sich nirgends mehr aus, und nun kämen alle und bäten ihn um Hilfe und Rath“. Und seine Umgebung tat, gleichviel, ob aus Überzeugung oder aus Liebedienerei, redlich das Ihre dazu, um den Staatskanzler, der gegen Schmeicheleien durchaus nicht unempfänglich war, in der angenehmen Vorstellung zu erhalten, als liege immer noch das Schicksal des Kontinents in seinen Händen. „Ich kann nur von Herzen bedauern“, schreibt ihm Gervay einmal, „dass Euere Durchlaucht in jedem Winkel Ihres Aufenthaltes von Weltgeschäften verfolgt werden und nirgends Zeit zur Erholung finden können. Ich kann aber anderer Seits wieder der Welt nur Glück wünschen, wenn deren Geschäfte bei Euerer Durchlaucht hellen und ruhigen Geist sich Rath holen“! i«) Er sieht eine Gnade der Vorsehung darin, daß des Fürsten „Geist stets mit Weltgeschäften genährt werden müsse, auch wenn Hochderselbe zur Erholung ein mäs- siges Otium suche“ 14). Und der Palatin Erzherzog Joseph „stellt alles, was auf seinen Sohn Erzherzog Stephan sich bezieht, der weisen und freundschaftlichen Entscheidung des Kanzlers anheim, überzeugt, dass er stäts nur das Beste für ihn vor Augen habe“ ts). Solche Weihrauchnebel konnten leicht die Klarheit des Blickes trüben, konnten die Richtigkeit des Urteils beirren. „Wir stehen in einer grossen Kinderstube“, so sieht Metternich im Sommer 1843 die innere Lage der Monarchie, „acht Jahre hat das Gebäude gehalten, heute reisst ein Stück nach dem andern loss und mit mir wird es zusammenfallen“ i«) — es sollte anders kommen, denn als ein Jahrfünft später das „System“ wirk­lich zerbarst, wurde sein Zusammenbruch nicht durch den Ausfall seines Schöpfers ausgelöst, vielmehr war das alte Haus eben seit langem bau­fällig gewesen und begrub nun bei seinem Einsturz seinen Träger unter den Trümmern. Doch trotzdem dem alternden Staatsmann die Zügel Europas bereits entglitten waren, er vermochte im diplomatischen Kräftespiel immer noch eine sehr bedeutende Stellung zu behaupten und auf dem innenpolitischen Felde durfte er sich der national-liberalen * io) ia) LXXV. w) LXII. is) LXVIII. io) XLVI.

Next

/
Thumbnails
Contents