Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 8. (1955)

CORETH, Anna: Das französische Archivwesen. Bericht über den internationalen Archivkurs in Paris 1954–1955

336 Archivberichte dieser Jahrgang läuft teilweise parallel mit dem Archivkurs für Aus­länder. c) Das Nationalarchiv (Les Archives Nationales). Durch die französische Geschichte geht ein tiefer Riß: die Revolu­tion. Die durch sie hervorgerufene Umwälzung in sozialer wie admini­strativer Art war so grundlegend und die Nachwirkungen so gewaltig, daß es heute im Geschichtsbild des Franzosen zwei große Epochen seiner Vergangenheit gibt, jene vor der Revolution, als „ancien Régime“ geliebt oder gehaßt, und jene nach ihr. Diese Tatsache zeichnet sich in der Anordnung der Bestände aller öffentlichen Archive Frankreichs ab. Die Revolution war aber auch von fundamentaler Auswirkung auf das französische Archivwesen selbst. Zunächst zerstörte sie systematisch in großem Stil alle feudalen Rechtsurkunden und verkleinerte die Be­stände durch umfangreiche Skartierungen. Zugleich aber schuf sie die Basis zu den heutigen Archiveinrichtungen sowohl in Paris wie in den Provinzen durch Konzentration der Archivalien und öffnete den Zutritt zu den Archiven, die nun als nationales Eigentum galten. Das Nationalarchiv selbst ist aus dem am 29. Juli 1789 gegründeten Archiv der konstituierenden Nationalversammlung hervorgegangen, wo zunächst deren Sitzungsprotokolle, Konzepte für Verordnungen etc. auf­bewahrt wurden. In den folgenden Jahren aber wurden hier alle Archi­valien angehäuft, die sich im Ancien Régime bei den verschiedenen Be­hörden gebildet hatten, in der königlichen Schatzkammer, in den Ämtern der Minister, in den Abteien und bei den Adeligen. Ungeheure Massen sammelten sich an und es dauerte Jahre, bis ein geeignetes Depot ge­funden wurde. Gaston Camus, Rechtsanwalt beim Parlament, Jansenist, Vorkämpfer für die konstitutionelle Kirche, der erste Archivar, instal­lierte das Archiv zunächst in Versailles, dann wurde es während weniger Jahre in die Klosterbibliothek der Feuillants, in die der Kapuziner in rue Saint-Honoré, ins Gebäude der Konvention und schließlich, 1800, in das Palais Royal übersiedelt. Das Nationalarchiv gehörte zu den großen Planungen Napoleons, der ihm schließlich das prächtige Bauwerk des Hőtel Soubise im Jahre 1808 einräumte, wo es bis heute seinen Platz hat. Napoleon hatte ja beschlossen, in Paris nicht weniger als die Archive aller geistlichen und weltlichen Mächte Europas, die er nun beherrschte, zusammenzuziehen. Ein kühner Traum. Hingegen vergrößerte sich der Umfang des Archivs auf andere Weise. Knapp vor 1848 erfaßte es die alten, bisher im Justizpalast auf bewahrten königlichen Gerichtsakten, was einen bedeutenden Zuwachs ausmachte. Seither hat das National­archiv die nebenliegenden Palais in seinen Bereich eingeschlossen, 1845 das Hőtel d’Assy, 1862 das Hőtel de Breteuil, 1927 das Hőtel de Rohan und 1948 das Hőtel de Boisgelin, so daß der Archivkomplex nach neuen Planungen ca. 4 Hektar bedecken wird. Es ist geplant, innerhalb des Komplexes Erweiterungsbauten vorzunehmen. Der Direktor der Archives de France, derzeit Mr. Charles Braibant, ist gleichzeitig Direktor des Nationalarchivs. Das Archivpersonal um­faßt alles in allem 160 Personen, davon 46 wissenschaftliche Beamte:

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